Kaum eine Methode zur Analyse chemischer Strukturen ist heute so weitverbreitet, wie die von Richard R. Ernst (1933-2021) massgeblich vorangetriebene kernmagnetische Resonanzspektroskopie (nach dem Englischen nuclear magnetic resonance auch als NMR-Spektroskopie abgekürzt).
Für den Betrieb von NMR-Spektrometern ist eine möglichst störungsfreie elektromagnetische Umgebung entscheidend. Ernsts Labor an der ETH Zürich sei aufgrund des regen Tramverkehrs im Universitätsquartier jedoch eine der «instabilsten elektromagnetischen Umgebungen der Welt»,1 berichtete er dem Herausgeber des NMR Newsletter,2 Dr. Bernard L. Shapiro, in einem Brief vom Juli 1992. Trotz der widrigen Umstände gelang es dem seit 1968 an der ETH forschenden Professor für physikalische Chemie im Verlauf seiner Karriere, die NMR-Spektroskopie mehrfach zu revolutionieren. 1991 erhielt er für seine Beiträge den Nobelpreis für Chemie.
Die NMR-Methode ermöglicht es, die Struktur einer chemischen Probe zu entschlüsseln, indem diese mit Radiowellen energetisch angeregt und die von der Probe wieder abgegebene Energie gemessen wird. Jeder denkbare Stoff hat einen einzigartigen Fingerabdruck, der als Spektrum aufgezeichnet werden kann und Rückschlüsse auf die molekulare Struktur der Probe zulässt. Die an Ernsts Labor vorbeifahrenden Strassenbahnen beeinträchtigten die Qualität dieser Fingerabdrücke. Denn durch die Oberleitung der Strassenbahn fliesst ein Gleichstrom, der ein eigenes Magnetfeld erzeugt. Die Stärke dieses Magnetfelds hängt von der Stärke des durch die Leitungen fliessenden Stroms ab. Die damalige Steuerungstechnik der Tram führte zu sprunghaften Veränderungen der Stromstärke und entsprechend auch zu einem stark schwankenden Streumagnetfeld entlang der Oberleitungen. Die analoge Regeltechnik der NMR-Spektrometer konnte diese rapiden Umschwünge nur schlecht kompensieren.3 «Ich bin mir sicher», fuhr Ernst in seinem Brief fort, «dass wir das Zürcher Tramsystem ungewollt noch öfter beworben haben, als dies das Tourismusbüro getan hat».4 Ernst meinte damit das unverkennbare Rauschen, das die oben beschriebene Wechselwirkung der Tram mit den hochempfindlichen Magneten der Spektrometer bei allen seinen Messungen hinterliess. Gerade für die Entwicklung moderner, hochauflösender NMR-Experimente sei dies ein untragbarer Zustand. Seine Forschungsgruppe habe sogar erwogen, die Arbeiten auf diesem Gebiet ganz einzustellen. Die Störsignale seien so stark, dass sie von ihrem Standort an der Universitätsstrasse 22 aus «alle anfahrenden und haltenden Trams in ganz Zürich allein durch das Aufzeichnen von NMR-Spektren verfolgen» könnten.5
Die ungünstige Situation in Zürich sei für den Chemiker eine «harte Landung» gewesen,6 vor allem vor dem Hintergrund seiner produktiven Zeit in Kalifornien. Nach seiner Promotion an der ETH 1962 wechselte Ernst in die Privatwirtschaft zur Elektrotechnikfirma Varian Associates in Palo Alto, Kalifornien. Beflügelt von den Möglichkeiten und dem Pioniergeist des aufstrebenden Silicon Valley gelang Ernst zusammen mit Weston A. Anderson, der ihn nach Kalifornien geholt hatte, der erste grosse wissenschaftliche Durchbruch. Den beiden Forschern gelang es, eine einfache, aber folgenreiche Idee in die Tat umzusetzen. Statt wie bei herkömmlichen NMR-Spektrometern den Frequenzbereich langsam abzutasten, schickten sie einen kurzen, aber intensiven Breitbandimpuls auf die Probe. Das resultierende Spektrum war zwar wegen des starken Rauschens zunächst kaum zu entziffern. Doch durch die erfolgreiche Anwendung einer raffinierten mathematischen Methode, der Fourier-Transformation, gelang es den beiden Forschern, die darin enthaltenen Informationen herauszufiltern. Dadurch konnten sie die langsam arbeitenden NMR-Spektrometer deutlich beschleunigen und gleichzeitig ihre Empfindlichkeit um ein Vielfaches steigern.7
Literatur und Verweise
Seit Januar 2024 wird der wissenschaftliche Nachlass von Richard R. Ernst archivisch erschlossen und verzeichnet. Nach Abschluss der Arbeiten Ende 2025 werden die Dokumente in der Archivdatenbank des Hochschularchivs und im Katalog der ETH-Bibliothek recherchierbar und im Lesesaal der Sammlungen und Archive einsehbar sein.
Sehr geehrte Damen und Herren,
in dem Artikel hat es einige Ungenauigkeiten, die man vielleicht korrigieren sollte:
“berichtete er dem Herausgeber der einflussreichen Fachzeitschrift NMR Newsletter, Dr. Bernard L. Shapiro, in einem Brief vom Juli 1992”. Dieser NMR Newsletter war ein informeller Newsletter (nicht zitierfähig) und keine einflussreiche Fachzeitschrift. Dieser wurde inzwischen digitalisiert und kann unter https://ismar.org/barry-shapiros-nmr-newsletters-index/ eingesehen werden.
“Denn an der Kontaktstelle zwischen Oberleitung und Stromabnehmer werden elektromagnetische Störsignale erzeugt, die sich über weite Strecken ausbreiten können.” Das Problem sind die Leitungen, durch die bei der Strassenbahn ein Gleichstrom fliesst, der ein magnetisches Feld abhängig von der Stromstärke erzeugt. Diese Ströme und damit die Magnetfelder ändern sich sehr schnell und stören damit die Aufnahme der NMR Spektren, die auf ein zeitlich und räumlich stabiles homogenes Feld angewiesen sind.
“Der neue «AMX 600» der Firma Bruker Biospin konnte dank digitaler Technik das NMR-Rauschen fast vollständig unterdrücken.11” Es wird nicht das Rauschen unterdrückt sonder die Schwankungen des Magnetfeldes (welche dann zum Rauschen führen) werden durch ein besseres System zur zeitlichen Stabilisierung der Magnetfelder unterdrückt.
Mit freundlichen Grüssen,
Matthias Ernst