Diese Zielmarke wurde zusammen mit rund 320 anderen Vermessungsinstrumenten aus dem Institut für Geodäsie und Photogrammetrie in die Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel aufgenommen. Die Zielmarke wurde für die Vermessungsarbeiten beim Bau des Simplontunnels verwendet.
Der Simplontunnel
Von 1898 bis 1905 und von 1912 bis 1921 wurde der Simplontunnel in Form von zwei Einspurröhren gebaut. Der knapp 20 km lange Tunnel verbindet die Schweiz (Brig, Wallis) mit Italien (Iselle di Trasquera, Piemont). Verglichen mit den drei damals wichtigsten Alpentunnels, dem Mont-Cenis-Tunnel, dem Vorarlberg-Tunnel und dem Gotthard-Tunnel, war der Simplontunnel nicht nur der längste, sondern mit 705 m. ü. M. auch der Tunnel mit dem niedrigsten Scheitelpunkt.1 Bis 1982 blieb er der längste Tunnel der Welt.
Rosenmund und die Absteckung des Tunnels
Max Rosenmund, von 1904 bis 1908 Professor für Vermessungskunde und Geodäsie an der ETH, beschäftigte sich seit 1898 mit der Richtungsbestimmung des Simplontunnels und führte die Absteckungsarbeiten durch. Dabei berechnete er die Lotabweichungen bei der Netzberechnung, was als bahnbrechende Verbesserung viel Aufsehen und Beachtung erregte.2
1905 veröffentlichte Max Rosenmund anlässlich des Durchstichs der ersten Röhre einen Artikel, in dem er den Bau des Tunnels ausführlich beschrieb. Auf S. 85ff. beschreibt er das von ihm gewählte Verfahren der Triangulation zur Absteckung des Tunnels. Die sogenannten Feldarbeiten der Triangulation, also die Winkelmessungen vor Ort, wurden im Sommer 1898 durchgeführt und nahmen 70 Tage in Anspruch.3
Aber auch innerhalb des Tunnels mussten Richtungsmessungen durchgeführt werden, wobei eben solche beleuchteten Ziel- oder Tunnelmarken zum Einsatz kamen. Rosenmund beschreibt anschaulich, wie mühsam diese Absteckarbeiten mitten im Berg gewesen sein müssen:
«Der Absteckungs-Ingenieur stellt einen Theodoliten oder ein durchschlagbares Fernrohr auf dem letzten abgesteckten sicheren Punkte auf, der vorhergehende sichere Punkt tunnelauswärts dient ihm als Richtungspunkt, dort hat er eine Lampe aufstellen lassen, nach deren Anvisieren er das Fernrohr durchschlägt und einen Punkt weiter einwärts neu einvisiert. Dies geht aber nicht immer so rasch wie es beschrieben ist. Kaum hat unser Ingenieur eingestellt, so hört man auch schon von Weitem ein “Attentione”. Ein Zug, von Pferden gezogen, kommt daher gefahren; der hält nicht an, er fährt eben drauf los und unser Ingenieur muss machen, dass er rasch bei Seite kommt mit seinem Instrument, wenn er nicht will, dass ihm dasselbe beschädigt wird. Hierauf wird von Neuem aufgestellt; das Instrument ist am Platze, die Lampe auf dem Punkt rückwärts schön zu sehen, jetzt wird’s gehen! Da krachen Sprengschüsse von vor Ort, die Lampen werden durch den Luftdruck ausgelöscht, alles steht im Finstern und bis die Lichter wieder brennen, ist auch schon der Rauch der Schüsse da und man kann nicht auf weitere Entfernungen sehen. Kein Wunder, wenn da der Absteckungs-Ingenieur bisweilen ungeduldig zusammenpackt und ausruft, morgen auf Wiedersehen!»
Rosenmund (1905), S. 90.
Absteckungstheodoliten und Zielmarken im Einsatz
Für die hier beschriebenen Arbeiten wurden im Simplontunnel zwei Absteckungstheodolite der Firma Kern Aarau und Zielmarken bzw. Lampen verwendet. Im Artikel von Rosenmund ist von Acetylenlampen die Rede, die aufgrund ihrer starken Leuchtkraft im Gruben- und Tunnelbau zum Einsatz kamen. Eine Abbildung in Rosenmunds Artikel zeigt ein schweres Stativ, auf dem eine Art Zielmarke aufgebaut ist, allerdings ohne die Platte mit den fünf Kreisen, wie sie unser Modell aufweist. Unten angehängt und mit der Lampe verbunden befindet sich der Gas-Tank für das Acetylen.
Die Zielmarke unserer Sammlung enthält als Lichtquelle eine Kerze. Diese beleuchtet die Metallplatte mit den fünf Kreisen, die mit dem Fernrohr oder dem Theodoliten anvisiert werden kann. Das Messingkästchen schützt die Kerze vor Wind oder den oben erwähnten Detonationen. Die Funktionsweise der Zielmarke wird in folgendem Video gezeigt, welches wir für die Treasure Troves-Kampagne der ETH-Bibliothek produziert haben:
Wichtiger als die Tunnelmarken bzw. Lampen waren natürlich die Absteckungstheodolite. In der Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel befindet sich ein Absteckungstheodolit der Firma Kern. Dieser kam allerdings nicht beim Bau des Simplon-, sondern beim Bau des Lötschbergtunnels zum Einsatz (Blogbeitrag folgt am 27.09.2023). Eines der beiden Simplon-Instrumente, das fast identisch aussieht, befindet sich heute im Stadtmuseum Aarau. Wie aus dem Inventarblatt des Stadtmuseums Aarau hervorgeht, kam der Kern-Theodolit zunächst als Leihgabe des Instituts für Geodäsie und Photogrammetrie der ETH ins Museum. Ursprünglich war er also auch im Besitz des Geodätischen Instituts. Zusammen mit der Zielmarke wird ihn Max Rosenmund dem Geodätischen Institut übergeben haben.
3D-Digitalisierung
Objektauswahl
Die Entscheidung für dieses Objekt fiel uns leicht, da wir wussten, dass es beim Bau des Simplontunnels verwendet wurde. Eine so geanue Zuweisung zu einem historischen Ereignis und seiner Verwendung ist in unserer Sammlung eher selten und daher von besonderem Wert.
Mithilfe des 3D-Modells konnten wir zudem weitere wertvolle Informationen über das Objekt gewinnen: Die Aufkleber auf der Unterseite blieben uns bei der Erstinventarisierung verborgen (siehe Annotationen 6-8), da wir das Objekt nie von unten betrachtet haben. Erst beim Anbringen der Annotationen, also beim Bewegen des digitalen Objektes, sind wir auf diese Aufkleber gestossen. Insbesondere bei schweren oder sperrigen Exponaten, bei denen die Unterseite oder andere versteckte Details nur schwer zu erkennen sind, erweisen sich 3D-Modelle als unschätzbarer Mehrwert für die Inventarisierung und Dokumentation.
Photogrammetrie und Modellierung
Das schwarz lackierte Metall liess sich gut photogrammetrisch erfassen. Die Libelle mit der Glasabdeckung musste wie üblich manuell ergänzt werden. Auch die Kerze war photogrammetrisch nur schlecht erfassbar und wurde daher manuell ergänzt. Die animierten Strukturen wurden ebenfalls manuell erzeugt.