Trü trü trüda drü – Arnold Heim, Vogelstimmen und der Entwurf einer neuen Notenschrift

Regelmässige Leser:innen des ETHeritage Blogs kennen schon viele Facetten von Arnold Heim. Heute kommt eine weitere hinzu: Arnold Heim als Sammler von Vogelstimmen.

«Wer einmal den Versuch gemacht hat, Stimmen der Natur in Noten festzuhalten, der empfindet eine zweifache Schwierigkeit der Aufgabe: Zunächst braucht es eine besondere Übung und das absolute Gehör, um aus den variablen Stimmen bestimmte Weisen herauszugreifen und so zu erfassen, daß sie in unserem geistigen Ohr nach Wunsch wiederholt werden können. Dazu kommt die Unzulänglichkeit unserer konservativen Notenschrift.» (Schweizerische Musikzeitung und Sängerblatt 63 (1923), S. 1)
Mit dieser Feststellung beginnt Arnold Heim einen Artikel über «Vogel- und Insektenstimmen aus den Tropen», der im Januar 1923 in der Schweizerischen Musikzeitung erschien. Der Text basiert auf einem Vortrag, den Heim am 13. Dezember 1922 vor den Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich gehalten hatte. Heim, der als Geologe auf der Suche nach Rohstoffen zu diesem Zeitpunkt bereits weite Teile der Welt bereist hatte, beschreibt dort die Vielfalt der Vogel- und Insektenstimmen und präsentiert Ideen für eine eigene Notenschrift.
Für seinen «Versuch zu einer neuen Tonschrift» kombiniert Heim Musik und Naturwissenschaften. Zum einen nimmt er das kartesische Koordinatensystem als Vorbild, um den Tonhöhenverlauf (y-Achse) in seiner zeitlichen Dimension (x-Achse) zu notieren. Zum anderen erweitert er das bekannte 5-Linien-System um zwei weitere Linien und nutzt dieses, um die genaue Tonhöhe zu definieren. Diese kleine Erweiterung hat jedoch weitreichende Folgen. Sie ermöglicht es, dass in dem neuen 7-Linien-System alle Halbtöne der Zwölftonleiter aufeinanderfolgend und ohne die Ergänzung von Vorzeichen notiert werden können.

Druckvorlagen für die Abbildungen in Heims Artikel über Vogelstimmen. Ganz oben das von Heim vorgeschlagene 7-Linien-System, in der Mitte einige Beispiele, ganz unten ein Beispiel für einen im Koordinatensystem dargestellten Tonhöhenverlauf (Hs 494:287).
Druckvorlagen für die Abbildungen in Heims Artikel über Vogelstimmen. Ganz oben das von Heim vorgeschlagene 7-Linien-System, in der Mitte einige Beispiele für die Notation von Vogelstimmen, ganz unten ein Beispiel für einen im Koordinatensystem dargestellten Tonhöhenverlauf (Hs 494:287).
Für Heim waren die Vorteile dieses Systems eindeutig:
«Bedienen wir uns des oben vorgeschlagenen Prinzips, so lassen sich, wie es scheint, die reinen Stimmen fast restlos durch Kurven darstellen, und zwar nach absoluter Tonhöhe, Intervall, Tonverbindung, Phrasierung, relativer Tonstärke und Rhythmus. Die Laute, wenn vorhanden, lassen sich wie bei der Vokalmusik hinzuschreiben, und man wird wohl auch noch eine Bezeichnung für relative Reinheit, Klangfarbe und absolute Tonstärke finden.»  (Schweizerische Musikzeitung und Sängerblatt 63 (1923), S. 19)
Dass Heim dann im weiteren Verlauf alle Beispiele für Vogelstimmen jedoch nicht in seiner neuen Notation darstellt, sondern das traditionelle 5-Linien-System verwendet, erscheint auf den ersten Blick dann etwas merkwürdig. Erst die Schlussbemerkung liefert eine mögliche Erklärung. Dort entsteht nämlich der Eindruck, dass es Heim vielleicht gar nicht nur darum ging, über Vogelstimmen zu berichten und eine neue Notation vorzustellen. Vielmehr dient ihm das Beispiel der Vögel, die sich nicht an das westliche System der in zwölf Halbtonschritte eingeteilten Oktave halten, eher als argumentatives Sprungbrett. Davon ausgehend stellte er nämlich die scheinbare ästhetische Überlegenheit des strengen Zwölftonsystems in Frage:
«Haben wir recht, unsere temperierte Halbtonleiter und unsere Notenschrift als das Höchste und Letzte und Unabänderliche in der Musik hinzunehmen? […] Ist nun aber die Möglichkeit unseres Zwölftonsystems nicht fast erschöpft? Warum sucht der moderne Musiker immer weiter durch polyphone Dissonanzen aller erdenklichen Art Neues und Originelles zu schaffen, worin doch oft nur die Verzerrtheit unserer ganzen gegenwärtigen Kultur zum Ausdruck gelangt, ohne dass damit etwas seelisch Tieferes, Erhebendes und Bleibendes erzeugt wird? Ist die Zeit nicht gekommen, dass wir Wege suchen, aus der Sackgasse herauszutreten? Lehrt uns darüber nicht die Musik des Ostens? Überzeugen uns davon nicht die Stimmen der Natur?» (Schweizerische Musikzeitung und Sängerblatt 63 (1923), S. 43)
Es ist vermutlich eher Zufall, dass Heims Referat zeitlich zusammenfällt mit den ersten Aufführungen von Arnold Schönbergs Komposition «Pierrot Lunaire» in der Schweiz (zuerst am 30. November 1922 in Winterthur, weitere Aufführungen folgten unter anderem in Zürich und Genf), trotzdem wird deutlich, dass sich Heim mit den Entwicklungen der sogenannten «Neuen Musik» auseinandersetzte. So finden sich beispielsweise in Manuskripten zu späteren Vorträgen Heims zum gleichen Thema, die im Hochschularchiv der ETH Zürich überliefert sind (Hs 494:3), Verweise auf Alois Hába, der sich mit mikrotonaler Musik auseinandersetzte.

Ausserdem besuchte er im Jahr 1923 Erich Moritz von Hornbostel, einen der führenden Musikethnologen seiner Zeit. Hierfür hatte Heim einen Fragenkatalog vorbereitet (Hs 494:287), um zu erfahren, wo er Aufnahmen mit Vogelstimmen bekommen könnte, oder auch die nötige Ausrüstung, um selbst Aufnahmen anzufertigen. Hornbostel informierte ihn auch über den aktuellen Forschungsstand und nannte ihm mögliche Ansprechpartner für Fragen. Leider ist nichts darüber bekannt, ob Arnold Heim dann tatsächlich bereits in den 1920er Jahren Tonaufnahmen anfertigte.
Die zahlreichen Notenskizzen mit Vogelstimmen (Hs 494:287) zeigen aber, dass ihn das Thema auch weiterhin interessierte und beschäftigte. Dabei verwendete er jedoch ganz unterschiedliche Formen der Notation, von seiner eigenen auf sieben Linien, über eine Mischform mit fünf Linien, bis hin zur herkömmlichen Notenschrift.
Hs494287_Eule
Nicht nur Arnold Heim sammelte Vogelstimmen. Hier war es sein Vater, Albert Heim, der einen “Eulengesang” aufzeichnete. Dazu gehörtd auch die sorgfältige Dokumentation, wann, wo und in welcher Form die Stimmen zu hören waren (Hs 494:287).
Auch seinen Vortrag über die Vogelstimmen wiederholte Heim noch mehrere Male. Bis in die 1940er Jahre bildet dabei die «freie melodische Linie» als wichtiges Element einer «Musik der Zukunft» einen eigenen Abschnitt. Im letzten überlieferten Manuskript, vom 1. Februar 1957, fehlt hingegen der direkte Bezug zur Musikpraxis. Die Aufnahmetechnik hatte sich weiterentwickelt, so dass Heim in der Lage war, nun eigene Tonaufnahmen zu präsentieren. Und auch die Kompositionstechniken hatten sich weiterentwickelt. Es wäre spannend zu wissen, ob Heim wusste, dass sich zur gleichen Zeit der französische Komponist Olivier Messiaen nicht nur intensiv mit Vogelstimmen beschäftigte, diese in seinen Kompositionen – insbesondere im Catalogue d’oiseaux – verwendete und damit den Vogelstimmen einen wichtigen Platz in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts sicherte.

PS: Auch im 21. Jahrhundert finden Vogelstimmen ihren Weg in die Musik. So hat zum Beispiel der DJ und Ökologe Dominik Eulberg 2021 das Projekt Synthibirds realisiert und die Top Ten der Vögel des Jahres musikalisch verarbeitet. Wer Dominik Eulberg und seine Biodiversitätsshow live erleben will, hat dazu bald eine Gelegenheit. Er gastiert am 31. August an der ETH-Bibliothek, im Rahmenprogramm der Ausstellung «Biodiversität: verletzliche Vielfalt.».

Weiterführende Literatur:

Susanne Heiter: Von Admiral bis Zebrafink. Tiere und Tierlaute in der Musik nach 1950, Schliengen 2021 (= Forum Musikwissenschaft, Bd. 13).
Roderick Chadwick und Peter Hill: Olivier Messiaen’s Catalogue d’oiseaux: From Conception to Performance, Cambridge 2017.
Norbert Graf: Die Zweite Wiener Schule in der Schweiz. Meinungen – Positionen – Debatten, Kassel 2010 (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung, Bd. 16).

Beitragsbild oben: Albatros südlich Australien, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Heim, Arnold / Dia_010-038 / CC BY-SA 4.0, http://doi.org/10.3932/ethz-a-000025552

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