Von Einem, der auszog, den Brückenbau zu revolutionieren (Teil I)

Wie ich in meinem letzten Beitrag über den ETH-Baustatiker Wilhelm Ritter angekündigt habe, soll an dieser Stelle von einem anderen Schüler Ritters die Rede sein: von Othmar Hermann Ammann (1879-1965), der 1904 nach Amerika auszog und die Kunst des Brückenbaus neu definierte.

Dieser schweizerisch-amerikanische Ingenieur entwarf Brücken, die heute das Bild des modernen Amerika prägen und geradezu selbst zu Ikonen der Moderne geworden sind. Vor allem durch den Bau von zwei spektakulären New Yorker Hängebrücken, der George-Washington Bridge (eröffnet 1931) und der Verrazzano-Narrows Bridge (eröffnet 1964), seinem letzten und grössten Bauwerk, wurde Othmar Ammann nicht nur in Amerika eine Berühmtheit. Beide Brücken galten zu ihrer Zeit als jeweils längste Hängebrücke der Welt.

George-Washington Bridge ca. 1931, New York City (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Hs_1410-016-303-009)

Verrazzano-Narrows Bridge, New York City, tiefgeflogen (schräg), Swissair, DC-4 Jubiläumsflug GVA-NYC, 1997 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, LBS_SR04-030717)

Ammann wurde auch beim Bau der berühmten Golden Gate Bridge in San Francisco (eröffnet 1937) als beratender Ingenieur zugezogen. Erfahren Sie mehr dazu in unserem Blogbeitrag zur Golden Gate Bridge.

Die ersten Jahre in Amerika und immer wieder Lilly

Doch zurück zu den Anfängen: der junge Schweizer Auswanderer betritt am 5. Mai 1904 den Hafen von New York mit einem Ingenieurabschluss der ETH in der Tasche. Othmar Ammann will nur ein oder zwei Jahre in Amerika bleiben, denn seine Verlobte Lilly Wehrli wartet auf ihn in Zürich.


Othmar Ammann, 1904 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr 15998)

Ammann hat grosses Glück, schon nach knapp zwei Wochen findet er einen Job im renommierten Ingenieurbüro von Joseph Mayer am Broadway Nr. 1, Downtown Manhattan. Dort wird er erste Erfahrungen in der Konzeptionierung von grösseren Brücken sammeln.

New York mit seinen hochaufragenden Wolkenkratzern und dem regen Verkehr, der sich um die Jahrhundertwende noch hauptsächlich aus Pferdedroschken und erst wenigen Automobilen zusammensetzt, macht natürlich grossen Eindruck auf den Schweizer. Mehr als 20 Fähren über den Hudson River stellen die Verbindung zwischen dem fast vollständig mit Wasser umgebenen Manhattan und dem Festland her. Im Büro von Joseph Mayer wird Ammann zum ersten Mal mit dem Problem der Hudson-Überbrückung konfrontiert. Die grossartige Brooklyn Bridge (eröffnet 1883) von Manhattan über den East River nach Brooklyn existierte damals schon.

Othmar schreibt Lilly fast täglich, hunderte von Briefen sind an sie und seine Familie aus diesen ersten Amerika-Jahren im Ammann-Nachlass im Hochschularchiv der ETH Zürich erhalten.


Brief an Lilly Wehrli, 21. Mai 1904 (ETH-Bibliothek; Hochschularchiv, Hs 1410: 3.103/ Nr. 17)

«Meine theuerste Lilly!

[…] Glaube mir, es ist unsere Liebe, die es mir möglich macht, so leicht + mutig durch die Welt zu wandern. Ohne sie würde es mir vielleicht manchmal bange vor der Zukunft, ich wüsste nicht wo mein Ziel wäre, denn ausser zu Hause würde ich nirgends ein Heim finden. Nun aber weiss ich, dass in der lieben Heimat ein theures Herz meiner harrt, das bereit ist, an meine Seite zu kommen, wann + wo es mir auch passt mich festzusetzen + dass mir in jedem Erdenwinkel ein trauliches Heim errichten wird. Noch nie seitdem ich die Heimat verlassen habe ist es mir bange geworden; […].»

Im Sommer 1905 kehrt Othmar kurz nach Zürich zurück, um Lilly zu heiraten und zu sich nach Amerika zu holen. 1906 wird der erste Sohn Werner geboren, 1910 folgt Jürg. Noch wollen die Ammanns nur wenige Jahre bis zur Einschulung der Jungen in den USA bleiben.

Lilly, Othmar mit Jürg, ca. 1912 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1410: 3.101c, S. 24)

American Steel und Quebec Bridge Desaster 

Zwei Jahre nach seiner Ankunft in New York lebt Othmar Ammann mit seiner kleinen Familie in Harrisburg, im Herzen der damaligen US Stahlindustrie. Inzwischen arbeitet er bei der ‘Pennsylvania Steel Company’ in der Abteilung Brückenbau und steigt innert vier Jahren vom Zeichner-Konstrukteur zum Assistenten des Chefingenieurs mit eigenem Design Team auf.

Da zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer hochwertigerer und preisgünstigerer Stahl auf den Markt kommt, eröffnen sich für Brückenbauingenieure neue Konstruktionsmöglichkeiten. Eisen- oder Eisenbetonbrücken konnten in der Bauhöhe beliebig angepasst, über weitere Distanzen gezogen und schneller und billiger erstellt werden als steinerne Brücken. Das 20. Jahrhundert wird das Zeitalter der Stahlkonstruktionen.

Als am 29. August 1907 ein Ausleger der sich im Bau befindlichen Quebec-Brücke einstürzt und 75 Bauarbeiter unter den Stahlträgern begraben werden, wird das Vertrauen in Stahl-Fachwerkkonstruktionen tief erschüttert. Ammann bietet dem mit der Unfalluntersuchung beauftragten Chefingenieur C.C. Schneider seine Mithilfe an und macht sich als Gutachter einen Namen.

Schneider holt ihn 1909 in sein Ingenieurbüro Kunz & Schneider nach Philadelphia, das auf das Konzept der Hängebrücke spezialisiert ist: weniger Stahl, grosse Spannweite, ökonomische Effizienz.

Die grosse Chance

Im Februar 1912 eröffnet sich Ammann eine neue, einmalige Chance. Als stellvertretender Chefingenieur soll er im Ingenieurbüro von Gustav Lindenthal in New York, dem damals führenden Brückenbauer in Amerika, die Bauleitung der Hell Gate Eisenbahnbrücke von Queens auf Long Island über den East River in die Bronx übernehmen. Gustav Lindenthal (1850-1935), ein grosses Vorbild, wird ein Förderer und väterlicher Freund von Othmar Ammann. Die gute Zusammenarbeit wird über 10 Jahre dauern. Die Ammanns nehmen 1924 die amerikanische Staatsbürgerschaft an und werden für immer in den USA bleiben.

Hell Gate Bridge, 1916 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1410: 12.202)

Die Hell Gate Bridge, erbaut 1912-1916 nach den Plänen Gustav Lindenthals, bleibt die längste Stahlbogenbrückenkonstruktion der Welt, bis sie 1931 von der Bayonne Bridge abgelöst wird.

Bayonne Bridge (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1410:17.301.22)

Die von Othmar Ammann entworfene und 1928 bis 1931 erstellte Bayonne Bridge schliesst Bayonne (New Jersey) an Staten Island an und gilt noch heute als die fünftlängste Bogenbrücke der Welt (510.5 m Spannweite).

Das Hudson River Projekt

Als Othmar Ammann im Jahr 1904 amerikanischen Boden betrat, gab es in New York fast nur Pferdefuhrwerke. Gut fünfzehn Jahre später produziert die Ford Motor Company das legendäre Model T am Fliessband. Die Verkehrssituation hatte sich drastisch geändert. Wer in den 1920er Jahren von New York nach New Jersey übersetzen wollte, musste mit dem Auto bei den Hudson-Fähren oft stundenlang warten.

1920 erhält Ammann von Lindenthal den Auftrag, eine schwere, zweideckige Hängebrücke mit 20 Autospuren und 12 (!) Schienensträngen zu berechnen. Die Brücke soll Manhattan über den westlichen Hudson mit New Jersey verbinden.

Othmar und Lilly Ammann in einem Ford Model-T (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1410: 3.101c, S. 26)

Ammann sitzt mit Lindenthals Vorgaben fast drei Jahre lang an den Berechnungen. Der Abriss zahlreicher Wohnhäuser würde Zwangsumsiedlungen erfordern; die Kosten für das Erstellen von Zufahrtsrampen, Fundamenten und Verankerungen gehen ins Unermessliche … Ammann beginnt an der Machbarkeit und auch am Standort der Brücke zu zweifeln und weist seinen Chef auf die Unmöglichkeit des Projektes hin. Er will Lindenthal überzeugen, die Brücke zu redimensionieren oder zumindest nach Norden zu verschieben.

Ammann setzt sich für eine leichtere Brücke vor allem für Autos ein und nicht auch für den Schienenverkehr, wie Lindenthal plant. Schliesslich stellt sich Ammann offen gegen seinen Chef, am 22. März 1923 notiert Ammann in seine Büro-Agenda: « […] G.L. rebuked me severely for my ‘timidity’ + ‘Shortsightedness’ in not looking far enough ahead. He stated that he was looking ahead for a 1000 years».

Die George-Washington Bridge (GWB)

Im April 1923 scheidet Ammann nach 11 Jahren Zusammenarbeit aus dem Büro von Gustav Lindenthal aus. Ammann hat längst einen eigenen Plan und erstellt bis im Dezember 1923 einen Entwurf für eine kürzere Brücke weiter nördlich von Manhattan.

Study of a Highway Bridge across the Hudson River at New York from Washington Heights to Fort Lee. General Plan, Dec. 30, 1923. Designed by O.H. Ammann (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv Hs 1410: 16.606/1923.2)

Er versetzt die Brücke von der 57. Strasse auf der Höhe von Manhattan an die schmalste Stelle des Hudson River, einem topographisch günstigen Ort mit steil abfallenden Felsufern auf der Höhe der 179. Strasse, Washington Heights. Um weitere Kosten zu sparen, soll die Brücke nur acht Fahrspuren, davon zwei für Busse und Lastwagen, vier für den privaten Personenverkehr und zwei Gehwege für Fussgänger erhalten. Erst zu einem späteren Zeitpunkt kann als Option eine zweite Ebene mit 4 Schienensträngen für Eisenbahnzüge eingebaut werden.


Zeichnung von Othmar Ammann, Kopie, beiliegend zum ersten Projekt vom 15. Dez. 1923 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv Hs 1410: 16.606/1923.1)

Ammann berechnet seine Riesenbrücke von Hand – mit dem Rechenschieber. Immer noch mehr als tausend Meter über den Hudson River müssen überspannt werden. Die Herausforderungen sind gewaltig: Das Einlassen der Fundamente unter Wasser, die gigantischen Pfeiler, das Spinnen und Verankern der Tragseile, in solch grossen Dimensionen ist all dies Pionierwerk.

Oft arbeitet er bis tief in die Nacht hinein, schreibt unzählige Gutachten, lobbyiert für sein Vorhaben. Die Lage wird für ihn auch finanziell immer ungemütlicher. Ammann hat eine nunmehr fünfköpfige Familie zu ernähren, 1922 ist Tochter Margot zu Welt gekommen. Wiederholt ist er auf Hilfe aus der Schweiz und auch von New Yorker Freunden angewiesen.

Als Lindenthal von Ammanns Plänen erfährt, beginnt er auf höchster politischer Ebene und auch öffentlich gegen das Projekt zu schiessen. Ammann schiesst zurück: Er kann eine deutlich billigere (30 Millionen; Lindenthal 180 Millionen), kürzere, weniger breite und leichtere Brücke anbieten, wie er in seinem am 18. Dezember 1923 verfassten Begleitschreiben an den Gouverneur des Staates New Jersey, George S. Silzer, schreibt:

Othmar Ammann an Gouverneur George Silzer (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1410: 16.106.1923/3, S. 4)

Schliesslich erhält Ammanns kostengünstigeres Hudson-Projekt den Zuschlag der Port Authority of New York and New Jersey, die für den Bau von Brücken und Tunnels im Gebiet des New Yorker Hafens verantwortlich zeichnet. Im Juli 1925 wird Ammann Brückeningenieur bei der New Yorker Hafenbehörde und wird mit der Realisierung der Brücke beauftragt. Am 21. September 1927 erfolgt der Spatenstich für die George Washington Bridge (GWB).

Spatenstich, GWB, 21. Sept. 1927, Ammann rechts aussen (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1410: 16.304: 1925-1927)


Baustelle GWB, 3. Sept. 1929 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 16.304: 1929)

Die GWB wird Ammanns erste von ihm erbaute Hängebrücke. Mit dieser Brücke wird Ammann neue Massstäbe für die nächsten 50 Jahre setzen. Ihre Spannweite beträgt 1067m, sie ist bei ihrer Fertigstellung 1931 die längste Hängebrücke der Welt.

Rocket Science und Weltwirtschaftskrise

Vom ersten Spatenstich bis zur Eröffnung der GWB haben Filmkameras der amerikanischen Wochenschauen sämtliche Bauphasen festgehalten. Brückenbau war in jener Zeit eine Art ‘Rocket Science’, von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt. Die GWB entstand in der letzten Phase der 20er Jahre während der legendären ‘Roaring Twenties’ … bis zum fatalen Absturz in die Weltwirtschaftskrise 1929. Trotz dieser beispiellosen ökonomischen Katastrophe wurde die GWB sechs Monate vor dem geplanten Termin am 24. Oktober 1931 feierlich eröffnet.

Das Budget von schliesslich 60 Millionen Franken wurde nicht ausgeschöpft. Auf die geplante Verkleidung der Brückenpfeiler mit Granitplatten, wie damals üblich, verzichtete Ammann, um nicht bei der Struktur sparen zu müssen, und schuf damit eine architektonische Ikone.

GWB mit unverkleideten Stahlträgern (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 16.304: 1932?)

Ammanns Brücke mit ihren sichtbaren Stahlträgern wurde von der internationalen Presse als Meisterwerk gefeiert, als Fanal der Moderne, als ‘Achtes Weltwunder’ oder ‘Poetry in Steel’. Ammann begründet mit der Konstruktion dieser Brücke seinen Ruf als bedeutendster Stahlbrückenbauer seiner Zeit.

Von 1958 bis 1962 wurde unter Ammanns Leitung das untere Deck eingefügt, nicht für Eisenbahnzüge, sondern für Automobile. Noch heute ist die GWB die meistbefahrene Strassenbrücke der Welt, täglich rollen über 280’000 Fahrzeuge über die Brücke.

Lesen Sie das nächste Mal über die Entstehung von Ammanns Verrazzano-Narrows Bridge.

Quellen:

Martin Witz: Gateways to New York (2019). Drehbuch zum gleichnamigen Film. Mit Genehmigung des Autors.

Othmar Ammann, 1879-1965, 60 Jahre Brückenbau. Ausstellungskatalog, Technorama Winterthur, 1979.

3 Gedanken zu „Von Einem, der auszog, den Brückenbau zu revolutionieren (Teil I)“

  1. Dieser Beitrag ist spannend, und er liest sich gut! Als Literaturwissenschafterin interessiere ich mich nicht primär für Brücken und Brückenbau, aber die historischen Aspekte sind faszinierend, insbesondere das Bildmaterial: Brücken sind nicht nur Wunderwerke der Technik, sondern auch ästhetisch schön und elegant. Schweizer Ingenieure können nicht nur Tunnel, sondern auch Brücken bauen, und sie sind, wie der Blog zeigt, auch im übertragenen Sinn Brückenbauer.
    Der Blog hat mich so begeistert und neugierig gemacht, dass ich auch in anderen Beiträgen gestöbert und mich für den Newsletter eingetragen habe.

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  2. Auch für einen Bauingenieur, der fast alles was über Othmar Ammann geschrieben wurde gelesen hat, ein ausserordentlich spannender und hochinteressanter Beitrag. Die Autorin setzt in das grosse “Am-mann-Puzzle” weitere, bisher unbekannte und liebevoll bearbeitete Steine ein. Auch die Auswahl und vor allem die Qualität der schwarz/weiss Brückenbilder ist sensationell. Ich freue mich bereits auf die Fort-setzung.

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  3. Sehr geehrte Frau Bussmann
    Ich habe für mein Buchprojekt über diverse Aspekte der USA vor 50 Jahren wertvolle Informationen in Ihren interessanten Artikeln über die George Washington Bridge und die Verrazano Narrows Bridge gefunden (natürlich mit Quellenangabe). Dafür bin ich Ihnen dankbar.
    Kleine Frage: Weshalb schreiben Sie “Verrazzano” mit zwei “z”? In Karten und Büchern finde ich stets “Verrazano”.

    Mit besten Grüssen
    Urs Ritschard

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