Objects matter – geobotanische Forschungspraktiken in den 1920ern

Der Beizug von Objekten als Quellen eröffnet neue Perspektive auf historische Praktiken. So ermöglicht das genaue Betrachten von geobotanischen Forschungsinstrumenten wie die wissenschaftliche Arbeit auf dem Feld ausgesehen hat und wie schwierig es war, die geobotanische Methodik in den 1920er Jahren zu vereinheitlichen und standardisieren.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Objekten, Sammlungen oder im weitesten Sinne Materialitäten stösst seit einigen Jahren auf verstärktes Interesse, wovon etwa Debatten um den material turn in den Geisteswissenschaften1, aber auch wissenschaftspolitische Positionierungen wie etwa die «Empfehlungen zu wissenschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastrukturen» des deutschen Forschungsrates zeugen.2 Gerade in den Geschichtswissenschaften sind konkrete Forschungsarbeiten, welche auch Objekte als Quellen einbeziehen, nach wie vor selten. Der Einbezug von Objekten in die historische Forschung und ein Blick auf die materielle Seite der Wissenschaftsgeschichte kann den Blick auf konkrete wissenschaftliche Praktiken schärfen und neue Perspektiven und Fragestellungen eröffnen. Die Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel der ETH-Bibliothek besitzt rund 3200 Objekte, die in Forschung und Lehre der ETH seit ihrer Gründung zum Einsatz gekommen sind und ermöglicht einen Einblick auf historischen Forschungspraktiken unterschiedlicher Fachgebiete und Disziplinen.

Eduard Rübel, ein bekannter Zürcher Geobotaniker, schreibt 1924:

«Die Soziologie [gemeint ist die Pflanzensoziologie, dz] ist heute in prachtvoller rascher Entwicklung begriffen nach verschiedenen Richtungen, nach allen möglichen Methoden, wobei die Vergleichbarkeit und Verwertbarkeit der Arbeiten oft leidet. Eine Gruppierung der Gesichtspunkte und Vereinheitlichung macht sich als Bedürfnis geltend.»3

Auch Walo Koch, wie Rübel ein Schüler von Carl Schröter, kommt 1925 zum selben Schluss: «Wie jede junge Wissenschaft bedarf die Pflanzensoziologie in erster Linie der Systematik.»4 Die beiden Forscher kritisierten also, dass die Pflanzensoziologie, später vor allem als Geobotanik bezeichnet, von verschiedenen Forschungsansätzen geprägt war und es an einer einheitlichen Methodik fehlte. Dies war nicht nur die subjektive Sicht der beiden Zürcher.

Auch an der 3. Internationale Pflanzengeographische Exkursion (IPE), welche 1923 in den Schweizer Alpen stattfand, wurde darüber diskutiert und an einem Regentag auf dem Berninahospiz, an dem keine Exkursion stattfinden konnte, schlug der Krakauer Botanikprofessor Wladyslaw Szafer vor, «zur Vereinheitlichung pflanzensoziologischer Untersuchungen zuerst einmal den Buchenwald in den verschiedenen Ländern nach einheitlichen Gesichtspunkten zu untersuchen.»5

Dritter Internationale Phytogeographische Exkursion (I.P.E.): Schweiz, auf dem Diavolezzagletscher
Die Teilnehmer:innen der 3. IPE auf dem Diavolezzagletscher,
ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Unbekannt / Dia_282-0057 

Im Rahmen einer internationalen Untersuchung sollte in der Folge am Beispiel der Buchenwälder eine Vergleichbarkeit der Methoden der Pflanzensoziologie erzielt werden. Als Studienleiter gewählt wurden die drei in Zürich tätigen Wissenschaftler Rübel, Schröter und Heinrich Brockmann. 9 Jahre nach der Initiierung folgte die Publikation «Die Buchenwälder Europas» als Heft 8 der Veröffentlichungen des Geobotanischen Instituts herausgegeben.6

Buchenwälder Europas
Titelblatt, Die Buchenwälder Europas, Bern-Berlin 1932
(Veröffentlichungen des Geobotanischen Institutes Rübel in Zürich, 8).

Sie enthielt Studien aus 14 Ländern, welche am Internationalen Botanikerkongress in Cambridge 1932 präsentiert wurden. In seinen Schlussbetrachtungen kommt Herausgeber Rübel indes zu folgendem ernüchternden Ergebnis: «Trotz der einheitlich aufgestellten Fragenliste, welche die Sprecher in erster Linie in ihren Vorträgen zu behandeln gebeten waren, konnten nach dem vorhandenen Forschungsmaterial und den speziellen Interessen des Vortragenden die Darlegungen nicht so gleichmässig ausfallen, dass man die Ergebnisse einheitlich zusammenfassen könnte. Hier kann daher zum Schluss nur ein kurzer allgemeiner Ueberblick gegeben werden und keine eigentliche klare Zusammenfassung.»7 Und weiter unten: «Trotz der vielen schönen Forschungen, über welche dieser Band handelt, war es sehr schwer, zu parallelisieren, und kann dieser Versuch nur mehr ein Skelett bilden.»8

Nach diesem Befund stellt sich die Frage, warum das gross angelegte, internationale Projekt gescheitert ist. Berücksichtigt man lediglich die schriftlich vorhandenen Dokumente, darunter der Bericht über die 3. IPE sowie die Studien in den einzelnen Ländern selbst, so könnte man zum Schluss kommen, dass sich die Forscher einfach nicht an die Vorgaben der Studienleiter Brockmann, Rübel und Schröter gehalten haben.

Ein Blick auf die damals verfügbaren geobotanischen Forschungsinstrumente lässt eine andere Interpretation zu. 2020 erhielt die Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel rund 80 Instrumente aus dem 1918 gegründeten Geobotanischen Forschungsinstitut Rübel, von denen einige aus den 1920er Jahren stammen, also aus dem Zeitraum, als die Vereinheitlichung der geobotanischen Methodik angestrebt wurde.

Wenn man sich über den Gesamtbestand dieser Instrumente einen Überblick verschafft, so fällt zunächst auf, dass sie – gerade auch im Unterschied zu anderen Objekten in der Sammlung, die eher im Labor oder in Vorlesungen verwendet wurden – einerseits sehr handlich, andererseits sehr robust sind. Falls es sich um fragilere Geräte handelt, wurden sie mit einer speziellen Verpackung aus Holz ausgestattet, die ein Mitnehmen aufs Feld erlaubt. Oft hat die Verpackung eine zusätzliche Funktion, etwa als Halterung.

 

 

So wird beispielsweise bei diesem Windmesser das Gerät einfach in die Holzkiste hineingebohrt und so für die Messungen aufgestellt, wie in diesem kürzlich erstellten 3D-Modell nachvollzogen wird. Dies zeigt: Die geobotanische Forschung fand draussen statt, oft in unwegsamem Gelände und sämtliche Instrumente mussten zum Untersuchungsstandort getragen werden. Beim Windwegmesser wurde gemessen, welchen Weg der Wind innert einer bestimmten Zeitspanne zurücklegte. Daraus konnte eine durchschnittliche Windgeschwindigkeit ermittelt werden.

 

Ein weiterer wichtiger Faktor geobotanischer Forschung ist die Sonnenscheindauer und der Sonnenstand. Das oben abgebildete Objekt ist ein Sonnenhöhenmesser oder Sonnenhöhenmeter von 1917. Dabei handelt es sich nicht um ein Standardinstrument, sondern es wurde von Eduard Rübel beim Zürcher Instrumentenbauer Hans Mettler an der Trittligasse in Auftrag gegeben, da er kein geeignetes Instrument auf dem Markt gefunden hatte. Der Sonnenhöhenmesser verfügt über eine Wasserwaage. Mithilfe der Schrauben wird er im Lot platziert. Auf dem Metallquadranten befindet sich eine Gradeinteilung. Darüber in schwarz ein darüber gleitender Hebel. Dieser hat zwei Vorsprünge, der obere, äussere ist ein Vorsprung mit Spalte, der innere Vorsprung mit Hebel hat einen weissen Strich. Der Hebel muss so bewegt werden, bis die Sonne durch die Spalte des äusseren Vorsprungs ihren Schein auf die weisse Linie im inneren Vorsprung wirft. Auf der Gradeinteilung kann bei der Marke die Sonnenhöhe abgelesen werden.

Mit diesem Sonnenscheinautograph nach Campbell-Stockes konnte die Dauer des Sonnenscheins gemessen werden. Das Sonnenlicht sammelt sich in einem Brennpunkt in der Glaskugel, welcher den Tag über wandert. Hinter die Glaskugel wird ein Papierstreifen eingelegt – je nach Jahreszeit in unterschiedlicher Länge – , auf dem sich das Licht einbrennt. So kann man am Ende des Tages auf 5 Minuten genau ablesen, wie lange zu welcher Tageszeit die Sonne geschienen hat. Ein wesentlicher Vorteil dieses Instruments bestand also darin, dass die Messwerte sich selbst aufzeichneten und nicht stündlich abgelesen werden mussten, wie dies bei vielen anderen Messinstrumenten aus dieser Zeit der Fall ist.

Als Teil der klimatischen Faktoren wurde beispielsweise die Luftfeuchtigkeit gemessen: Dies konnte mit einem Haarhygrometer gemacht werden. Das Haarhygrometer beruht auf dem Prinzip der Ausdehnung und Zusammenziehung des menschlichen Haares je nach dem Feuchtigkeitsgehalt der umgebenden Luft. Die eingespannten menschlichen Haare stehen dabei mit dem Zeiger in Verbindung, der das Ausdehnen oder Zusammenziehen der Haare auf der Skala anzeigt. Es handelt sich hierbei um ein eher heikles Instrument, das beispielsweise bei starker Trockenheit kaputt geht.

Mikroklimatische Messtation auf der Windecke, Dr. Volkmar Vareschi
Mikroklimatische Messstation auf der Windecke, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv,
Fotograf: Lüdi, Werner / Dia_282-1724 / CC BY-SA 4.0

Auf einem der seltenen Bilder aus der Feldforschung ist eine ganze Reihe von Instrumenten sichtbar – unter anderem ein Thermometer für die Lufttemperatur, zwei Bodenthermometer sowie links aufgehängt das Haarhygrometer. So wurden die Instrumente arrangiert und über Stunden stehen gelassen. Die Werte mussten regelmässig abgelesen und notiert werden, da die meisten Instrumente – im Unterschied etwa zum Sonnenscheinautographen – über keine Aufzeichnungsfunktion verfügten.

Auch die Baumhöhe wurde in einzelnen Teilstudien der oben erwähnten Studie über den Buchenwald Europas ermittelt. Dies geschah entweder mit einem Neigemesser, einem Kompass oder mittels eines Lattenhöhenmessers. Auf diesem Bild sieht man den Baumhöhenmesser nach Christen, hergestellt von der Firma Pfister & Streit in Bern. Bei den Lattenhöhenmessern musste ein «Gehülfe» stets eine 4-Meter-Latte neben den Baum stellen. Man sieht das Verfahren im Bild ganz rechts. Der Baum wird zwischen die beiden Vorsprüngen eingeklemmt (A-C). Die Latte gilt als Referenz, bei der man die Baumhöhe auf dem Messer ablesen kann (B-C). Gemäss Hersteller sei damit die Vermessung von 1000 Bäumen pro Tag möglich.

Dieser Blick auf eine kleine Auswahl geobotanischer Forschungsinstrumente, welche für die Erforschung der Buchenwälder verwendet wurden, lässt nur erahnen, wie gross der Aufwand war, um Forschungsdaten zu erheben. Es mussten zahlreiche Instrumente aufs Feld gebracht werden, um Aussagen etwa zu den klimatischen Bedingungen machen zu können, die Messdaten wurden in der Regel nicht automatisch aufgezeichnet, sondern mussten regelmässig abgelesen, aufgezeichnet und berechnet werden. Für gewisse Werte waren keine geeigneten Instrumente auf dem Markt und mussten speziell angefertigt werden, was wiederum dem Anspruch einer Standardisierung zuwider lief. Dies alles scheint dazu geführt zu haben, dass im Falle dieser Studie über den Buchenwald, nicht alle Forscher dieselben Faktoren ermittelt und in ihren Studien beschrieben haben. Aus diesem Grund wurde das eigentliche Ziel, die Vereinheitlichung der Methodik, verfehlt.

Erst der Beizug historischer Forschungsinstrumente nimmt in diesem Fall die historische Feldarbeit und die damit einhergehenden Schwierigkeiten einer Vereinheitlichung und Standardisierung der Methodik in den Blick und ermöglicht so eine andere Perspektive auf die Geschichte dieses auf den ersten Blick gescheiterten Projektes.

Mehr über die geobotanischen Forschungsinstrumente und Eduard Rübel erfahren Sie an der nächsten Public Tour vom 16. Mai 2023, 18:15: Im Feld mit Eduard Rübel.

 

1. Vgl. bspw.: Knoll, Martin: Nil sub sole novum oder neue Bodenhaftung? Der material tum und die Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur, Jg. 59 (2014), S. 191-207; Ludwig, A.: Materielle Kultur, Version: 1.0. Docupedia-Zeitgeschichte, 30.05.2011. http://docupedia.de/zg/Materielle_Kultur
2. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zu wissenschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastrukturen (Drs. 10464-11), Januar 2011, https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/10464-11.html. Weitere Beispiele: Gründung des International Council of Museums Comittee for University Museums and Collections UMAC im Jahr 2000 (http://umac.icom.museum/), der Gesellschaft für Universitätssammlungen e.V. in Deutschland im Jahr 2012 (https://gesellschaft-universitaetssammlungen.de/), aber auch die verschiedenen Förderprogramme der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG sowie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF zur Unterstützung von objektbasierter Forschung oder Digitalisierung von Universitätssammlungen, wobei bei all diesen Initiativen natürlich nicht in erster Linie die historische Forschung adressiert ist.
3. Rübel, Eduard, Vorwort: in: Veröffentlichungen des Geobotanischen Institutes Rübel in Zürich 1 (1924), S. 5.
4. Koch, Walo: Die Vegetationseinheiten der Linthebene unter Berücksichtigung der Verhältnisse in der Nordostschweiz. Systematisch-kritische Studie, in: Jahrbuch der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft, Band 61 (1925), S. 1-144, hier S. 5.
5. Schröter, Carl: Chronik der ersten bis dritten Internationalen Pflanzengeographischen Exkursion (I.P.E.), in: Veröffentlichungen des Geobotanischen Institutes Rübel in Zürich 1 (1924), S. 20f.
6. Rübel, Eduard (Hg.): Die Buchenwälder Europas. Veröffentlichungen des Geobotanischen Institutes Rübel in Zürich Nr. 8 (1932), https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=gbi-001%3A1932%3A8#5
7. Rübel, Eduard: Zusammenfassende Schlussbetrachtung zur Vortragsrunde über die Buchenwälder Europas. in: Ders. (Hg.): Die Buchenwälder Europas. Veröffentlichungen des Geobotanischen Institutes Rübel in Zürich Nr. 8 (1932), S.490-502, hier S. 490.
8. Ebd., S. 495.

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