3D-Digitalisierung an der ETH-Bibliothek
2022 startete die Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel an der ETH-Bibliothek ein Projekt, bei dem 20 ausgewählte Objekte mittels Photogrammetrie 3D-digitalisiert wurden. Thomas Erdin von ikonaut hat im Sommer 2022 im Depot der Sammlung die photogrammetrischen Aufnahmen gemacht – jedes Objekt wurde auf einem Drehteller ca. 300-500 Mal fotografiert. Anschliessend wurden die Modelle von ikonaut erstellt und auf Sketchfab veröffentlicht.
Ziel des Projektes ist nicht nur die Erstellung von 3D-Digitalisaten, sondern auch die begleitende kritische Befragung und Erprobung der 3D-Technologie: Wo und wie können die 3D-Digitalisate eingesetzt werden? Welches Potential haben die 3D-Modelle im Vergleich zum Original? Wer kann und soll die 3D-Digitalisate nutzen? Dies sind nur einige der Fragen, die das Projekt begleiten.
Begleitend zu diesem Projekt wird auf dem ETHeritage-Blog eine Serie «Sammlung 3D» erscheinen. Jedes digitalisierte Objekt wird in einem Blogpost beschrieben, der jeweils am Mittwoch erscheint. Einige Anmerkungen zur 3D-Digitalisierung – etwa zur Objektauswahl, zum Nutzen der Digitalisate oder auch zu technischen Aspekten, runden die Beiträge ab. Die Serie startet heute mit einem Beitrag über eine Sonnenuhr aus Elfenbein.
Die Nürnberger Kompassmacherfamilie Tucher
Diese Klappsonnenuhr aus Elfenbein wurde von einem Nürnberger Kompassmacher, einem gewissen Hans Tucher, hergestellt. Da in jeder Sonnenuhr ein Kompass integriert war, wurden die Hersteller von Sonnenuhren als Kompassmacher bezeichnet. Der Kompass dient der genauen Orientierung auf Reisen und der richtigen Einstellung der Sonnenuhr.1
Hans Tucher kam aus einer der bekanntesten Nürnberger Kompassmacherfamilien. Auch eine Kompassmacherin, Katharina Tucher, ging aus dieser Familie hervor. Drei Brüder trugen den Vornamen Hans und alle stellten Klappsonnenuhren her. Daher ist es oft schwierig, die überlieferten Artefakte einem der Brüder zuzuweisen. Die Forschung geht aber davon aus, dass die meisten Objekte auf Hans II (1557-1631) oder Hans III (1549-1632) zurückgehen.2
Auf diesem Bildnis sieht man Hans Tucher III an seinem Arbeitsplatz. Vor ihm auf dem Tisch liegen mehrere Elfenbeinsonnenuhren und Werkzeug, welches er zu deren Herstellung braucht. Im Hintergrund sieht man durch das Fenster einen Mann mit Turban und Säbel. In der Forschung geht man davon aus, dass es sich um einen Türken handelt. Ziel des Illustrators war es, damit auf die weite Verbreitung der Nürnberger Uhren hinzuweisen.3 Das Bild stammt aus den «Hausbüchern der Zwölfbrüderhausstiftungen». Diese zeigen über 1300 Darstellung zeitgenössischer Handwerke.
Nürnberg
Ab der zweiten Hälfte des 14. Jhs. entwickelte sich die bis dahin eher unbedeutende Stadt Nürnberg zu einer freien Reichsstadt mit politischem und wirtschaftlichem Einfluss. In den folgenden Jahrzehnten stieg sie zu einer der bedeutendsten Städte in Süddeutschland auf und wurde zu einem Zentrum für die Herstellung von Luxusgütern und für verschiedene Druckerzeugnisse wie Kunstdrucke, Globen oder Karten. Auch der Warenimport und -export war für die Stadt Nürnberg bedeutend.4 Seit dem späten 15. Jh. zählten Klappsonnenuhren zu den wichtigsten Exportgütern Nürnbergs.5
Die Forschung geht davon aus, dass für die Herstellung von Elfenbeinsonnenuhren das Elfenbein in Nürnberg gekauft und verarbeitet wurde. Während des 16. Jh. kam das Material von der West- oder Ostküste Afrikas über die neuen, von Portugal eröffneten Handelsrouten direkt nach Europa. Diese neuen Handelswege führten zu einem Elfenbeinboom in Europa.6
Zu den ersten Elfenbeinprodukten aus Nürnberg gehörten auch solche Klappsonnenuhren.7 Wann die erste Uhr hergestellt wurde, ist nicht klar, ihre Blütezeit lag zwischen 1580 und 1610. Schon gegen Ende des 16. Jhs. waren die Klappsonnenuhren aber vor allem Prestigeobjekte und keine Gebrauchsgegenstände mehr.8
Elfenbein
Elfenbein ist ein viel diskutiertes Material in der Provenienzforschung. Zu Recht, stammt es doch häufig aus ehemaligen Kolonien. Dabei ist der Umgang mit Elfenbein als Material von technischem Kulturgut, wie es wissenschaftliche Instrumente darstellen, komplex. Oft ist es kaum möglich, die genaue Herkunft des Materials und den Zeitpunkt seiner Einfuhr oder Verarbeitung zu bestimmen. Dennoch ist es wichtig und liegt in der Verantwortung der Sammlungen, auch bei technischem Kulturgut nach kolonialen Verstrickungen zu fragen. Gerade Materialien wie Elfenbein oder auch Kautschuk als Vorläufer des Kunststoffes, die in grossen Mengen in wissenschaftlichen Instrumenten vorkommen, können koloniale Materialien sein, für deren Gewinnung Menschen und Landschaften ausgebeutet wurden.9
Doch nicht jedes Objekt aus Elfenbein stammt zwingend aus einem Unrechtskontext. Dieser Begriff wird in der Provenienzforschung verwendet, wenn die Herkunft und der Besitz eines Objektes mit asymmetrischen Machtverhältnissen einhergehen.10 Für Objekte aus Elfenbein wurde – und wird – auch fossiles Elfenbein verwendet. Dieses stammt von Mammuts und lagert unter der Eisschicht Sibiriens.11 In diesem Zusammenhang kann nicht von einem Unrechtskontext im oben beschriebenen Sinne gesprochen werden. Zudem wurde Elfenbein bereits in der Antike verwendet und es gab bereits vor der Kolonialzeit Elfenbeinhandel, welcher durch die Sahara ans Mittelmeer lief und bei dem die Handelspartner als gleichgestellt angesehen wurden.12 Vom sogenannten «Elfenbeinrausch» spricht man erst im 19. Jh.; da spielen koloniale Herrschaftsverhältnisse eine entscheidende Rolle.
Für die Entstehungszeit der gezeigten Klappsonnenuhren sind keine Zahlen bekannt, für das 19. Jh. allerdings schon: In den 1890er Jahren exportieren allein die deutschen Kolonien in Afrika pro Jahr 208’000 kg Elfenbein. Zeitgenössische Berechnungen kamen auf ca. 10’000 getötete Elefanten pro Jahr.14
Ob die gezeigte Elfenbeinsonnenuhr aus einem Unrechtskontext stammt, konnten wir (noch) nicht in Erfahrung bringen. Weder wissen wir, woher das verarbeitete Elfenbein stammt, noch wie die Sonnenuhr in die Sammlung gelangt ist. Dokumente zur Sonnenuhr sind keine überliefert. Hinweise zu diesem (oder vergleichbaren) Objekten können gerne an scientific-instruments@library.ethz.ch geschickt werden.
3D-Digitalisierung
Objektauswahl
Die Elfenbeinsonnenuhr stammt aus der Sammlung von Rudolf Wolf (1816-1893). Wolf war Astronomieprofessor, Leiter der Semper-Sternwarte, Direktor der Bibliothek des Polytechnikums (heute ETH) und passionierter Sammler. Für seine Sammlung hat er 1873 ein Inventar angelegt. Zur Herkunft der digitalisierten Sonnenuhr ist diesem leider nichts zu entnehmen. So ist unklar, ob Rudolf Wolf sie gekauft oder als Geschenk erhalten hat.
Die Aktualität der mit dem Objekt verbundenen Forschungsdebatten haben uns dazu geführt, das Objekt für das 3D-Digitalisierungsprojekt auszuwählen.
Zudem handelt es sich um eines der ältesten Instrumente in der Sammlung, das von grosser Handwerkskunst zeugt und für die Vermittlung der Sammlung einen hohen Stellenwert hat. So ist diese Sonnenuhr auch in der Daueraustellung «Den Himmel erforschen – Ein Blick in die Sammlung von Rudolf Wolf» in der Semper-Sternwarte zu sehen. Während das Objekt in der Vitrine aber nur von vorne sichtbar ist, können mit dem 3D-Digitalisat auch die beiden Rückseiten sowie Details wie handschriftliche Ergänzungen oder Prägestempel detailliert betrachtet werden. So wird das 3D-Digitalisat etwa in Führungen gewinnbringend als Ergänzung zum Original gezeigt.
Photogrammetrie und Modellierung
Aufgrund der Materialbeschaffenheit waren die photogrammetrischen Aufnahmen gut umsetzbar. Das Elfenbein ist matt und ohne störende Reflexionen. Die Aufnahme wurde in zwei Klappzuständen gemacht. Der Polusfaden, der den Schatten wirft, konnte allerdings nicht erfasst werden und musste daher im Nachhinein manuell modelliert werden, was deutlich erkennbar ist. Die rote Schnur im Modell entspricht also nicht der Originalschnur.