Einblicke in die Mutter-Kind-Abteilung des Frauengefängnis Hindelbank im Jahre 1966

Eine junge Mutter mit Kochschürze steht in der Küche und rüstet Früchte. Daneben eine Schüssel Brei, wohl gedacht für ihr kleines Kind, welches nur wenig neben ihr in einem Hochstuhl sitzt und seiner Mutter gespannt zuschaut. Diese Momentaufnahme zeigt nicht etwa den Familienalltag einer Mutter mit ihrem Kind, sondern ist Teil einer Fotoreportage aus der Mutter-Kind-Abteilung des Frauengefängnis Hindelbank im November 1966, fotografiert vom Pressefotografen Jack Metzger der Comet Photo AG. Bereits im Jahr 2000 übernahm die ETH-Bibliothek den gesamten Archivbestand der Comet Photo AG, da die Agentur im Jahr zuvor im Zuge der aufstrebenden Digitalisierung Konkurs ging. Mit dem Erwerb der rund einer Million Fotografien mutierte das noch junge ETH-Bildarchiv zu einer der grössten Fotosammlungen der Schweiz.

Frauengefängnis Hindelbank

Abbildung 1: Jack Metzger: Frauengefängnis Hindelbank, 11.1966 (Com_L16-0465-0001-0001)

Pressefotografien als historische Quellen

In ihrem Interesse an der Archivierung von Pressefotografien stand die ETH zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht alleine da, in dieser Entwicklung der Fotohistoriker Mirco Melone einen Wandel der Pressebildarchive von Gebrauchs- zu historischen Fotoarchiven sieht, welche sowohl den kulturellen als auch wissenschaftlichen Wert dieser Bilder schärften. Damit verstrickt ist auch das seit den 1990er-Jahren gestiegene geschichtswissenschaftliche Interesse am Medium der Fotografie, wonach die Übernahme solcher Bestände durch Gedächtnisinstitutionen stets mit geschichtspolitischen Interessen verbunden ist. Das Pressebild bildet nach Georg Kreis dabei eine ganz eigene Bildkategorie, welche fast unprätentiös festhält, was sowohl von öffentlichem als auch von kommerziellem Interesse ist. Faktoren, welche zudem massgebend durch die Rahmenbedingungen der jeweiligen Agenturen und Verlage selbst geprägt wurden.

Kinder hinter Gittern: Die Mutter-Kind-Abteilung der Strafanstalten Hindelbank

Über 80% der 460 Jugendlichen, welche Mitte der 1960er-Jahre im Kanton Bern zwangsversorgt wurden, waren Frauen. Unter dem Überbegriff der „sittlichen Verwahrlosung“ erfolgten deren Einweisungen an erster Stelle aufgrund eines noch sehr traditionell ausgerichteten gesellschaftlichen Verständnisses von Sexualität, wie dies bei schätzungsweise 31% der administrativ Zwangsversorgten Frauen der Fall war. Während zu je einem weiteren Viertel der Versorgungsgründe „Arbeitsverhalten, Stellenwechsel, Ausbildungsabbruch“ oder „Widerstand gegen Eltern und Vormünder, Fluchten aus Anstalten“ genannt wurden, machten „Delinquenz, Vorstrafen“ lediglich 4% aus.[1] Obschon ihre Zuweisung in die einzige Schweizer Frauenhaftanstalt in Hindelbank jeweils ohne strafrechtliche Verurteilung erfolgte, unterlagen die jungen Frauen faktisch denselben Haftbedingungen wie die übrigen Insassinnen. Erst im Sommer 1962 erfolgte im Rahmen umfassender Umbau- und Erweiterungsarbeiten deren räumliche Trennung sowie, ausgehend von einer Initiative der Frauenhilfe des Schweizerischen Evangelischen Verbands, die Errichtung einer Mutter-Kind-Abteilung für zeitgleich fünf Frauen. Kleinkinder konnten nun bis zum Alter von 18 Monaten auf der Abteilung bleiben, sofern Anstaltsleitung, Behörden, Vormundschaften und Herkunftsfamilien dies erlaubten.

Frauengefängnis Hindelbank

Abbildung 2: Jack Metzger: Frauengefängnis Hindelbank, 11.1966 (Com_L16-0465-0004-0001)

Auf der neu geschaffenen Abteilung konnten sich die Mütter unter Aufsicht einer Säuglingspflegerin um ihre Kinder kümmern, mit ihnen Spielen und die Nacht gemeinsam in der Zelle verbringen. Die obige Fotografie zeigt dabei eine Mutter, welche zuschaut, wie eine Säuglingspflegerin ihr kleines Kind wägt und dabei ihre Hand schützend unter sein Köpfchen hält.

Frauengefängnis Hindelbank

Abbildung 3: Jack Metzger: Frauengefängnis Hindelbank, 11.1966 (Com_L16-0465-0005-0001)

Die Reportage gibt ebenfalls Einblick in eine Zelle, in welcher Mutter und Kind gemeinsam wohnten. Während aus der Forschungsliteratur keine Angaben bezüglich der Gestaltung der Zellen auf der Mutter-Kind-Abteilung zu entnehmen sind, gibt Abbildung 3 einen entscheidenden Hinweis darauf, dass sie durchaus anders konzipiert waren. Besonders beachtenswert sind dabei die Raumgrösse, welche deutlich mehr als die üblichen acht Quadratmeter misst und somit genügend Platz für ein Kinderbett bietet, sowie das grosse, gitterlose Fenster. Dass sich durch die Reportage den Gefängnischarakter der Abteilung teilweise vergessen lässt, zeigen auch die beiden nachfolgenden Fotografien.

Frauengefängnis Hindelbank

Abbildung 4: Jack Metzger: Frauengefängnis Hindelbank, 11.1966 (Com_L16-0465-0007-0001)

Frauengefängnis Hindelbank

Abbildung 5: Jack Metzger: Frauengefängnis Hindelbank, 11.1966 (Com_L16-0465-0004-0002)

Obschon ersichtlich wird, dass auch die Gefängnisarchitektur auf der Mutter-Kind-Abteilung keineswegs gitterlos war, strahlen die beiden an derselben Stelle aufgenommenen Fotografien eine sehr gegensätzliche Wirkung aus. Während die vergitterte Tür in der ersten Fotografie die Aufmerksamkeit auf sich zieht, verschwindet sie auf der Zweiten im Hintergrund. Die niedliche Interaktion zwischen der Säuglingspflegerin und dem Kind auf dem Holzschwan bildet nun das Hauptmotiv.

Hinweise auf eine zentrale Rolle der Pflegerinnen gibt auch Abbildung 6. Wie alle anderen Insassinnen, mussten die jungen Mütter weiterhin täglich einer Arbeit in der Anstalt nachgehen, während jener Zeit sich eine der Säuglingspflegerinnen um ihre Kinder kümmerte.

Frauengefängnis Hindelbank

Abbildung 6: Jack Metzger: Frauengefängnis Hindelbank, 11.1966 (Com_L16-0465-0007-0002)

Auf dem Bild ist ersichtlich, dass die Kinder so tagsüber soziale Kontakte untereinander knüpfen konnten und nicht isoliert in einer Gefängniszelle aufwachsen mussten. Darüber, inwieweit sich ihre Mütter untereinander austauschen konnten, geben die Fotografien jedoch nichts preis.

Generell lassen die Fotografien einer solchen Reportage nur vage Vermutungen zu, welche Schicksale die porträtierten Frauen und Kinder auf die Mutter-Kind-Abteilung führten. Dazu braucht es die Stimmen von Frauen, welche mit ihren Schicksalen an die Öffentlichkeit traten. Basierend auf dem Buch Weggesperrt von Dominique Strebel, in welchem er 2010 eine Reihe von Einzelschicksalen von administrativ Zwangsversorgten Personen porträtierte, sollen im Folgenden die typischen Schicksale zweier junger Frauen besondere Nennung erfahren, welche beide als junge Mütter nach Hindelbank versorgt wurden. Eine dieser Frauen war die damals siebzehnjährige Ursula Biondi. Nach jahrelangen Gewalterfahrungen in ihrem Elternhaus floh sie mit ihrem damaligen Freund nach Italien und wurde schwanger. Als die Polizei sie dort aufgriff, sollte sie mit Einverständnis ihrer Eltern für zwei Jahre in ein Erziehungsheim eingewiesen werden, ein Ort, welcher sich letztlich als Frauenhaftanstalt Hindelbank entpuppte. Nach der Entbindung wurde ihr das Kind gegen ihren Willen weggenommen, doch Dank der Unterstützung einer Sozialarbeiterin gelang es ihr, ihren Sohn nach drei Monaten zurückzugewinnen. Die nächsten fünf Monate verbrachten sie gemeinsam auf der Mutter-Kind-Abteilung, bevor Biondi wegen guter Führung vorzeitig entlassen wurde. Das Neugeborene bei sich behalten zu dürfen war jedoch längst nicht allen Müttern gewährt und für viele bedeutete eine Zwangsversorgung einen endlichen Kontaktabbruch zu den eigenen Kindern. Dieses Schicksal galt auch Madeleine Ischer, welche nahezu ihr ganzes Leben in Kinderheimen und bei Pflegefamilien verbrachte, bis sie mit sechzehn zurück zur Mutter kam. In dieser Zeit lernte sie ihren Freund kennen und wurde schwanger. Nach einem Psychiatrieaufenthalt, erfolgte anschliessend die erneute Einweisung in ein Kinderheim, wo sie auch ihren Sohn gebar. Nach zwei Monaten wurde das Kind dort jedoch gegen ihren Willen zur Adoption freigegeben, woraufhin sie zusammenbrach und aus dem Heim floh. Infolgedessen erfolgte ihre administrative Versorgung nach Hindelbank, wo sie für über ein Jahr blieb. Ihren Sohn sah sie nie mehr.

Durch ihren Wandel von gebrauchs- zu historischen Dokumenten mutierten Reportagen wie diese zu wichtigen Quellen für die Geschichtswissenschaft. Welche Geschichte lässt sich nun mit einer Auswahl solcher Fotografien schreiben? Beispielhaft dafür gibt die Reportage von 1966 einen flüchtigen Einblick in den Alltag von Müttern, Kindern und Pflegerinnen, in die Gefängnisarchitektur und über Kleider- und Essgewohnheiten. Themen, welche in der Forschung zur administrativen Zwangsversorgung bisher meist nur gestreift wurden. In die persönlichen Schicksale geben sie im Gegenzug keinen Einblick. Dazu braucht es die Stimmen von Frauen wie Ursula Biondi oder Madeleine Ischer, die bereit sind, ihre eigene Geschichte preiszugeben.

[1] Zahlen basierend auf einer Stichprobenauswertung des Kanton Berns der Jahre 1950, 1955, 1960, 1965 und 1970 von Urs Germann, welche wiederum auf den Daten der Versorgungsbeschlüsse des Regierungsrats für die genannten Stichjahre basiert.

Literatur

Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (EKF), Lanfranconi, Lucia; Keller, Elisabeth (Hg.): Administrativ

versorgte Frauen in den Anstalten Hindelbank und das Engagement der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen EKF für eine Reform des Frauenstrafvollzugs in den 1970er und 1980er Jahren, Bern 2010.

Germann, Urs Philipp: Zur Nacherziehung versorgt. Die administrative Versorgung von Jugendlichen im Kanton

Bern 1942-1973, in: Berner Zeitschrift für Geschichte 80(1), 2018, S. 7-43 (Historischer Verein des Kantons Bern).

Kreis, Georg: Fotomosaik Schweiz. Das Archiv der Pressebildagentur Comet Photo AG, Zürich 2015 (Bilderwelten

No. 5).

Mathys, Nora; Steiger, Ricabeth: Das Netzwerk hinter der Pressefotografie, in: Netzwerk Pressebildarchive (Hg.):

Schweizer Pressefotografie. Einblick in die Archive, Zürich 2016, S. 81-96.

Melone, Mirco: Kommerz-Geschichte. Historische Pressefotografie zwischen Profit und Politik, in: Zeithistorische

Forschungen/Studies in Contemporary History 12(2), 2015, S. 326-335.

Rietmann, Tanja: Von Fällen „sozial Gestrauchelter“. Die Akten zur administrativen Versorgung im Staatsarchiv des

Kantons Bern (Schweiz), in: L’homme: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 18(2), 2007, S. 139-147.

Strebel, Dominique: Weggesperrt: Warum tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen, Zürich 2010.

Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen (Hg.): Alltag unter Zwang. Zwischen

Anstaltsinternierung und Entlassung, Vol. 8, Zürich/Neuchâtel/Bellinzona 2019.

Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen (Hg.): Organisierte Willkür. Administrative

Versorgungen in der Schweiz 1930-1981, Schlussbericht, Zürich/Neuchâtel/Bellinzona 2019.

 

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars «Digitale Bilder und digitale Bildarchive» bei Prof. Dr. Monika Dommann am Historischen Seminar der Universität Zürich.

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