Ein Stück Geschichte dem Auto geopfert

Wie Zürich für die Mobilität der Zukunft den Limmatraum für immer veränderte

Als «radikale Neuorganisation des Verkehrs» bezeichnete der Tages-Anzeiger im Mai 2022 die Idee des städtischen Tiefbauamtes, das Gebiet rund um den Zürcher Hauptbahnhof bis 2050 autofrei umzugestalten. Auch die Bahnhofsbrücke zwischen Central und Bahnhofquai soll dabei vom motorisierten Individualverkehr befreit werden. Während bürgerliche Politiker*innen skeptisch waren, lobte die linke Seite hingegen «die grosse Vision» für den Bahnhofsraum.

Zürich, Umbau Bahnhofbrücke/bahnhofquai
Abbildung 1: Grossflächige Umgestaltung des Limmatraums. Bauarbeiten 1949 mit bereits Verbreitertem Leonhardplatz, Zürich, Umbau Bahnhofbrücke/Bahnhofquai, 1949, Comet Photo AG, ETH-Bildarchiv, Com_M01-0499-0006.

Es scheint eine Auseinandersetzung wie eine von vielen bei verkehrspolitischen Fragestellungen zu sein. Überall in der Stadt wird über Velovorzugsrouten, Parkplätze und eine Mobilität der Zukunft gestritten. Nun findet die Debatte aber zurück zu einer Flussüberquerung, die in der Geschichte der Limmatstadt nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsmotor, sondern schon einmal Teil von umfassenden städte- und verkehrsplanerischen Änderungen sein durfte. Wie vor über 70 Jahren stellt sich nun die wieder die Frage: Welche Vergangenheit wird dem innovativen Zeitgeist geopfert? Und, noch viel wichtiger: Was für eine Stadt wollen wir eigentlich?

Die Lebensader der Stadt

Dass genau diese Flussüberquerung sich bestens für die Auseinandersetzung mit diesen Fragen eignet, erklärt sich mit ihrer Geschichte. Eine erste Brücke am heutigen Standort existierte bereits im Spätmittelalter. Bekannt als Unterer Mühlesteg, befanden sich in der frühen bis zu fünf Mühlen auf dem Steg – folglich nahm dieser eine zentrale Rolle in der Versorgung der Stadt ein. Spätestens mit dem Bau einer gedeckten Brücke im Jahr 1689 zwischen der Papierwerdinsel, wo sich heute das Globusprovisorium befindet, und dem linken Limmatufer, wurde sie Teil der dritten Flussüberquerung Zürichs.

Über Jahrhunderte blieb der Steg von grosser Bedeutung für das Stadtzürcher Gewerbe und Industrie. Die Energie, welche die Wasserströme der Limmat produzieren, war von essenzieller Bedeutung für die Güterproduktion. Im Zuge der Industrialisierung ersetzten schliesslich mehrere Fabriken auf dem Gelände die mittelalterlichen Mühlen. Erst mit der hinreichenden Verfügbarkeit alternativer Energiequellen und der damit verbundenen Verlagerung der Industrie in die Aussenquartiere fanden auch kleingewerbliche Unternehmen und Wohnungen ihren Platz auf der Limmat. So hatte neben dem bekannten Globus auf der Papierwerdinsel beispiels­weise ab 1880 die Buchdruckerei Jacques Bollmann AG, welche 1936 mit einer «Micky Maus Zeitung» die erste deutschsprachige Disney-Comicserie veröffentlichte, ihren Standort auf der Limmat.

Altstadt 1910
Abbildung 2: Der Untere Mühlesteg und die erweiterte, erste Bahnhofsbrücke, Altstadt 1910, 1910, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, BAZ_053317.

Zu diesem Zeitpunkt war der Steg bereits durch die erste Bahnhofsbrücke erweitert worden. Gebaut in den 1860er Jahren und ebenfalls über die Papierwerdinselführend, sollte diese den neuen Bahnhof besser erschliessen. Die mit der Bahn reisenden Menschenmengen waren aber bald schon zu gross für die neue Brücken. So berichtete die Zürcher Wochen-Chronik 1904, «dass nicht nur beide Trottoirs, sondern auch die Fahrbahn vollständig mit Menschen besetzt war». Somit sah sich die Stadt anfangs des letzten Jahrhunderts dazu gezwungen, die Brücke um 5 Meter zu verbreitern.

Dies löste die Verkehrsprobleme auf der Bahnhofsbrücke jedoch nicht für lange. Das Aufkommen des Autos führte bald zu neuen Problemen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg versiebenfachte sich die Anzahl Motorfahrzeuge pro Einwohner*in in der Stadt. Dieser enorme Anstieg, welcher bis in die 80er Jahren stetig anhalten sollte, führte zu radikalen Versuchen, die Stadt auto- und folglich zukunftsgerecht umzubauen. Das bekannteste Überbleibsel bildet hier wohl die Hardbrücke, welche Mitte der 50er Jahre erstmals im Generalverkehrsplan als Teil der nie vollständig umgesetzten Zürcher Expressstrasse-Y geplant worden war.

Aber auch in der Innenstadt musste die Verkehrssituation grundlegend verändert werden. Auch auf der verbreiterten Bahnhofbrücke hatte es neben den Trams nur Platz für eine Autospur, wie ein Bild des Baugeschichtlichen Archivs der Stadt Zürich zeigt. Aber nicht nur auf der Brücke, sondern im ganzen Bahnhofsbereich gab es für eine optimale Verkehrsführung für Autos, den öffentlichen Verkehr und Fussgänger*innen schlicht nicht genügend Platz. Die Lösung für das Platzproblem, die der Stadtrat 1946 erstmals vorstellte, war zugleich simpel und radikal: Die Limmat muss weichen.

Bahnhofbrücke
Abbildung 3: Verkehr auf der Bahnhofsbrücke, Bahnhofbrücke, 1930, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, BAZ_084837.

Fortschritt statt historische Gebäude

Um genügend Raum für alle Verkehrsteilnehmenden zu schaffen, sollten das Bahnhofquai, das Limmatquai, die Bahnhofbrücke selbst und der Leonhardplatz– heute als Central bekannt – verbreitert werden. Dies sollte erreicht werden, indem man den Flusszweig links der Papierwerdinsel zuschüttete und folgend für den Autoverkehr untertunnelte. Damit wollte der Stadtrat erreichen, dass es am «wichtigsten Verkehrszentrum der Stadt» zu weniger Stau kommt und es ausreichend Raum für den «freien Fahrverkehr» gibt, wie er in seiner Weisung an den Gemeinderat schrieb. Das einzige Hindernis: Um hinreichend Abflussraum für die Limmat zu erhalten, mussten der Mühlesteg und die darauf gebauten Häuser abgerissen werden. Was heute wohl ein Tourist*innenmagnet wäre, bezeichnete der Stadtrat damals als eine Bebauung ohne «historisches noch baukünstlerisches Interesse», welche man zugunsten des Autoverkehrs gerne entfernte.

Die Vorlage stiess auf grossen Zuspruch: Über das politische Spektrum hinweg war man sich einig, dass dieser Vorschlag das Richtige sei für die Stadt. Die einzige öffentliche Kritik an diesem Bauprojekt kam vorerst von einem LDU- Gemeinderat, welcher den ersatzlosen Abriss von Wohnraum bemängelte. Nichtsdestotrotz stimme er, genauso wie alle anderen Gemeinderäte, der Vorlage zu. In der darauffolgenden Gemeindeabstimmung im September 1948 veröffentlichten alle Parteien von Links bis Rechts sowie Wirtschaftsorganisationen und Verkehrsverbände sogar ein gemeinsames Flugblatt. Darin warben sie mit Slogans wie «Freie Sicht! Freie Bahn! Zeitgewinn! Moderne Stadt – durch die breitere Brücke!» für die Vorlage und forderten die Stimmbürger auf: «Stimmt für den Fortschritt». Der untere Mühlesteg wird als «Glumpp» bezeichnet, der endlich wegmüsse. Der geplante Abriss schien die Stimmbevölkerung nicht zu stören: Die 13-Millionen-Vorlage wurde deutlich, mit mehr als zwei Dritteln Ja-Stimmen, angenommen.

Zürich, Umbau Bahnhofbrücke
Abbildung 4: Eine Menschenmenge auf der Bahnhofbrücke beobachtet die Bauarbeiten in der Limmat, Comet Photo AG (Zürich): Zürich, Umbau Central/Bahnhofbrücke, 1950, ETH-Bildarchiv, Com_M01-0193B-0127.

Für eine freie Limmat

Die Abriss- und Umbauarbeiten, welche wenige Wochen nach der Abstimmung bereits begannen, wurden zu einem kleinen Spektakel. Mehrer Male berichtete die NZZ auf ganzseitigen Reportagen über den Fortschritt von Zürichs «imposantestem Bauprojekt», welches nun als Sinnbild für ein neues, modernes Zürich fungierte. Die von der Migros herausgegebene Zeitung Die Tat berichtete ebenfalls über die Menschen, die «vom frühen Morgen bis in die Nacht» die Bauarbeiten bewunderten. Von diesem Interesse zeugt auch eine Fotoreportage der Comet Photo AG, welche zahlreiche Menschen zeigt, die mit scheinbar grossem Interesse die Bauarbeiten verfolgten. Die Berichterstattung wie auch die Fotoreportagen legten den Fokus auf die Veränderung und das Neue. Das Alte, der Mühlesteg, kommt höchstens als «Schandfleck» vor.

Zürich, Umbau Central/bahnhofbrücke
Abbildung 5: Die Bauarbeiten zum Neubau der Bahnhofbrücke. Auch hier sind wieder viele beobachtende Menschen im Hintergrund erkennbar, Comet Photo AG (Zürich): Zürich, Umbau Central/Bahnhofbrücke, 1950, ETH-Bildarchiv, Com_M01-0193B-0122.

Die einzige Ausnahme war hierbei das fast 400 Jahre alte gedeckte Brüggli zwischen der Papierwerdinsel und dem linken Limmatufer. Hier eröffneten sich Risse im angeblichen Paradies. Die Brücke sollte der Autounterführung und dem geplanten Globus-Neubau Platz machen. Der Aufschrei in der Bevölkerung war gross. Grosse Teile der konservativen und liberalen Presse wollte das «Idyll», wie es die NZZ beispielsweise nannte, bestmöglichst schützen.

Die Abrissarbeiten wurden folgend fast konstant von missbilligenden Menschenmengen begleitet, der Pontoniersportverein führte eine Demonstration durch und das neugegründete «Aktionskomitee Freie Limmat» lancierte eine Volksinitiative. Darin forderten sie den Verkauf der Papierwerdinsel an die Stadt und damit zusammenhängend den Erhalt der hölzernen Brücke sowie die Verdrängung des Globus von der Limmatinsel. Die Initiative, welche von der Bevölkerung 1952 zwar gutgeheissen wurde, kam für das Brüggli zu spät. Selbst die Befürworter des «mittelalterlichen Charmes» gewichteten das städtebauliche Ziel einer Autounterführung schlussendlich höher. Gegen den Widerstand der Linken, welche die damit verbundenen Kosten bemängelten, beschloss der Stadtrat die Einzelteile der Brücke für einen potenziellen Wiederaufbau beim Schanzengraben aufzubewahren und so die Bevölkerung zu beruhigen. Nichtsdestotrotz wurden die Einzelteile kurz darauf aufgrund der morschen Verfassung des Holzes verbrannt. Dass ein Wiederaufbau der Brücke folglich unmöglich war, verschwieg der Stadtrat lange. Es sollte fast 50 Jahre dauern, bis er dies öffentlich eingestand.

Gedecktes Brüggli, Abbruch
Abbildung 6: Der Abriss des gedeckten Brüggli wird von einer Menge begleitet, Gedecktes Brüggli, Abbruch, 1950, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, BAZ_066042.

Obwohl sich heute fast niemand mehr an das Brüggli erinnert, sind die Folgen des Kampfs für seinen Erhalt auch zum heutigen Tage noch immer deutlich ersichtlich: Der Globus durfte keinen permanenten Neubau errichten und erhielt in den 60er Jahren von der Stadt sein heutiges Gelände am Löwenplatz. Das zur Überbrückung errichtete Provisorium beschäftigt Städtep­laner*innen und Politik bis heute. Auch im letztjährigen Vorschlag des Tiefbauamtes wird wieder einmal ohne Globusprovisorium geplant.

Vom Auto hin zum Velo

Der Umbau des Limmatraums zeigt exemplarisch, was bei grossen städtebaulichen Änderungen oft geschieht: Innovative Ideen sollen umgesetzt werden. Das Alte komplett loszulassen, ist für viele aber oft schwieriger als zuerst gedacht. Der motorisierte Individualverkehr schien damals die Zukunft zu sein. Exemplarisch für den immerwährenden Fortschritt sollte ein Teil der Zürcher Geschichte, in diesem Fall der Mühlesteg, dafür aus dem Stadtbild entfernt werden – dieser Grundsatz wurde über das ganze politische Spektrum hinweg nicht in Frage gestellt. Gleichzeitig nahmen die Veränderungen eine Dynamik an, die nichts mehr mit dem eigentlichen Verkehrsprojekt zu tun hatte. Vielmehr entstanden Auseinandersetzungen mit rein symbolischem Charakter. Gut 100 Jahre zuvor ging es bei der Schleifung der Stadtbefestigung um das endgültige Ende der städtischen Dominanz über das Land. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts war es dann die angebliche Idylle eines mittelalterlichen Zürichs, symbolisiert am maroden gedeckten Brüggli. Heute ist es vielleicht die Nostalgie für die damals propagierten Freiheiten des motorisierten Individualverkehrs.

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Vision aus der Testplanung HB/Central, Tiefbauamt der Stadt Zürich. Grafik: Team Van de Wetering Atelier für Städtebau GmbH, Zürich.

Unabhängig davon, ist eine solche, parteiübergreifende Einigkeit in der Verkehrspolitik heute undenkbar. Während die eine Seite nach mehr Veloinfrastruktur schreit, kämpft die andere Seite um jeden einzelnen Parkplatz.

Dieser Text ist im Rahmen der Übung “Digitale Bilder und Bildarchive” von Prof. Dr. Monika Dommann am Historischen Seminar der Universität Zürich (UZH) entstanden.

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