Mitten in einer idyllisch wirkenden Naturlandschaft liegen geheimnisvoll anmutende Schiffe im Wasser: Traditionelle chinesische Dschunken. Die flachbodigen Boote zeichnen sich durch ein hohes Heck und baumwollene Lugger-Segel aus. Vor den malerischen Hügeln lässt sich eine Häusersiedlung erahnen: der Hafen von Aberdeen. Als einer der ältesten Häfen auf Hong Kong Island erscheint er mit den traditionellen Dschunken oftmals als Fotosujet. Zwischen andersartigen Welten liegend, zog Hong Kong über Jahrzehnte westliche Fotografinnen und Fotografen an, von denen zahlreiche Aufnahmen und zwei identische Postkarten von 1929 und 1931 im ETH-Bildarchiv lagern. Was bleibt auf diesen verblichenen Postkarten verborgen? Es sind die Menschen und ihre Geschichten. Dieser Blog möchte die Entwicklungen des Hafens als pulsierende Lebensader in den geopolitischen Kontext stellen. Der Hafen ist Sinnbild für die traditionelle, koloniale und zeitgenössische Geschichte Hong Kongs. Dabei leitet eine Fotoauswahl von Dschunken als Bildmotiv durch drei Jahrzehnte.
Bereits der Name des Hafens Aberdeen lässt die Vergangenheit erahnen: Unter britischer Kolonialherrschaft wurde er nach George Hamilton-Gordon, dem Earl vom schottischen Aberdeen benannt. Ursprünglich hiess das damalige Dörfchen wohl ‹Hong Kong› – auf Kantonesisch bezeichnet man den Hafen heute noch als ‹Kleines Hong Kong›. Wörtlich übersetzt bedeutet er ‹duftender Hafen› – wohl dank dem süsslichen Duft des Räucherholzes, das in Aberdeen für das Festland umgeladen wurde. Als Güterumschlagplatz erlangte der Hafen schon seit dem 14. Jahrhundert grosse Bedeutung. Er diente jedoch nicht nur als wirtschaftliche Drehscheibe, sondern auch als Arbeitsplatz, Wohnort, später als Ausflugsziel und zum Freizeitvergnügen.
Erik Björn Lindroos und Jack Metzger, die beiden Mitbegründer der Comet-Photo-Agentur, haben im Jahr 1958 zahlreiche Reportagefotografien aufgenommen. In dieser Aufnahme ähnelt die Perspektive jener der älteren Postkarte: Der Hügel im Hintergrund zeigt den gleichen Umriss, doch ankern deutlich mehr Dschunken im Wasser. Offensichtlich übten sie eine besondere Faszination auf die Comet-Fotografen aus, denn sie dienten nicht nur als Fischerboote, sondern auch als Wohnraum für die einheimischen shui-jen – das ‹Wasservolk›, wie sie sich selbst nannten.
Mit dieser Nahaufnahme erhält man einen Einblick in die Lebensweise der Einheimischen: Offensichtlich wohnten mehrere Generationen auf den Dschunken zusammen. Die shui-jen gehörten zu ethnischen Minderheiten, die vermutlich als Baiyue-Gruppe aus Südchina eingewandert waren. Sie unterschieden sich nicht nur durch die Lebensweise, sondern auch durch Brauchtum und Dialekt von der landansässigen Bevölkerung. Auf dem chinesischen Festland schloss sie jedoch das Recht von Handel, Handwerk und Bildung aus, und es verbot ihnen, auf dem Land zu leben oder sich zu vermählen.
Diese Hafenaufnahme entstand ebenfalls 1958. Im Vordergrund blicken Einheimische auf ihrer eindrucksvollen Dschunke in die Kamera, während andere ihrer Arbeit nachgehen. Das sichtbare, hohe Schiffheck garantiert Stabilität und Auftrieb bei starkem Wellengang. Im Hintergrund erkennt man bereits mehrstöckige Häuser, die das spätere Stadtbild prägen werden. Die Möglichkeit, in den Häfen der britischen Kolonie zu arbeiten, bot den shui-jen neue Chancen: Dank ihren ausgezeichneten nautischen Fähigkeiten arbeiteten viele als Lotsen. Andere boten den Schiffcrews eintreffender Handelsschiffe frisches Essen und sonstige Waren von kleinen Flachbooten an. Zwei solche traditionellen Sampans werden rechts im Bild ersichtlich: Als Zubringer für grössere Schiffe wurden sie ebenfalls gebraucht. Die Landbevölkerung nannten die shui-jen entweder sea gypsies oder tankas – wobei letzteres vom kantonesischen tank für Dschunke und ka für Familie zusammengefügt wurde. Heute sind diese Begriffe nicht mehr in Gebrauch.
Die Kollaboration der shui-jen mit den britischen Kolonialherren sorgte auf chinesischer Seite für Missgunst. Nach der japanischen Besetzung im zweiten Weltkrieg geriet Hong Kong erneut unter britische Kolonialverwaltung. Im Zeitalter des Kalten Krieges erhielt die Region dabei eine neue, geopolitische Bedeutung: Als Bastion der kapitalistischen Welt spielte Hong Kong eine strategische Rolle für den Westen – im Kampf gegen den Kommunismus.
Dieses Bild eines freiheitlichen Hong Kongs verhinderte grossangelegte Reformen des bestehenden Kolonialsystems. Nur ansatzweise konnten Reformen des Young-Plan von 1947 durchgesetzt werden. Durch weitere politisch brisante Themen rückte die Demokratisierung Hong Kongs auf der britischen Politagenda weit nach unten. Darüber hinaus war allen Parteien klar: Die kommunistische Grossmacht China wäre über allfällige Demokratisierungsversuche in Hong Kong nicht erfreut.
Zur Zeit des Kalten Krieges waren Dschunken auch für den Schmuggeltransport im Einsatz: Illegale Rauschmittel und chinesische Flüchtlinge wurden zwischen dem Festland und Hong Kong transportiert. Lindroos veröffentlichte darüber am 6. Juli 1959 in der Schweizer Illustrierten eine Reportage über die Küstenwache, die Dschunken vor den Häfen nach Schmuggelgüter, illegalen Flüchtlingen und «äusserst gefährlichen rotchinesischen Agenten und Spionen» überprüfte.
In diesem Bild fällt der mittig platzierte Schriftzug augenblicklich auf: die Pepsi-Cola-Werbung. Die beiden traditionellen Boote auf der weit erscheinenden Wasseroberfläche bilden einen auffälligen Kontrast zu den eng angelegten, hohen Wohnblöcken. Doch die Geschichte Hong Kongs wurde nicht nur von der britischen Kolonialverwaltung geprägt, sondern auch von den Geschehnissen auf dem chinesischen Festland. Während des Grossen Sprungs nach vorne (1958-1960) und der Kulturrevolution (1966-1976) flüchteten hunderttausende Menschen in die britische Kronkolonie. Zählte Hong Kong im Jahr 1950 noch über zwei Millionen Menschen, so kamen in Zehnjahresabständen neu jeweils etwa eine Million Menschen dazu. Zwar führte die Kolonialregierung ein Quotensystem ein – doch der Versuch, die illegale Immigration zu stoppen, scheiterte kläglich. Die Einwanderer lebten und arbeiteten auf engstem Raum. Schliesslich sahen sich die Behörden gezwungen, mehrstöckige Siedlungen zu errichten.
In diesem Bild sind die weiss erscheinenden, neuen Hochhäuser auffällig erkennbar. Dabei ähnelt die Perspektive erneut derjenigen der Postkarte aus 1929 sowie der Fotografie aus 1958. Soweit das Auge reicht, liegen unzählige Dschunken und Sampans im Hafen von Aberdeen. Der chronologische Vergleich der Fotografien veranschaulicht das schnelle Wachstum von Aberdeen. Doch das friedvoll erscheinende Bild trügt: Die prekären Wohn- und Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmenden führten zu wiederholten Spannungen in der Stadt und gipfelten in den Krawallen im Mai 1967. Aus einem alltäglichen Arbeitsstreik für bessere Arbeitsbedingungen wurden Grossdemonstrationen mit zehntausenden Leuten, die monatelang gegen die britische Kolonialherrschaft protestierten. Beeinflusst von der Kulturrevolution auf dem Festland, die Mao Zedong gegen den Kapitalismus und chinesische Traditionen einleitete, zündeten radikale Demonstrierende Bomben gegen britische Institutionen – Menschen wurden verletzt und getötet. Folglich reagierte die Kolonialregierung repressiv mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes im Juli 1967: Sie verhaftete Demonstranten, löste Proteste auf und verbot Publikationen. Die Unruhen zogen sich dennoch bis zum Jahresende hin. Letztendlich setzte die Regierung einzelne politische und soziale Reformen durch. Trotzdem – der Schock seitens der Kolonialverwaltung sass tief. Die extreme Frustration der lokalen Bevölkerung und der offensichtliche Einfluss des chinesischen Festlandes kamen zum Vorschein. Das Jahr 1967 gilt in der Geschichte Hong Kongs als Zäsur, die einen extremen Vertrauensverlust zwischen Ost und West in der Geschäftsstadt mit sich brachte. Die erfolgreiche Wirtschaft als gemeinsamer Nenner war auf dem Prüfstand.
Im Hafen von Aberdeen entwickelte sich ein einzigartiger Wirtschaftszweig: die schwimmenden Restaurants. Zuerst servierten die shui-jen den eigenen Leuten den frischen Fang – jedes Boot spezialisierte sich dabei auf einen bestimmten Fisch oder eine andere Delikatesse aus dem Meer. Ab den 1920er Jahren wurden gar Plattbodenboote für Bankettveranstaltungen umgebaut. Mit der Zeit weitete sich der Kreis der Kundschaft auf die Landbevölkerung aus; die schwimmenden Restaurants wurden zu einer kommerziellen Touristenattraktion.
Der Edelsteinforscher und Juwelier Eduard Gübelin fotografierte auf einer seiner Reisen anfangs der 1960er Jahre das erste schwimmende Restaurant. Nebst den vielen sichtbaren Dschunken und Sampans im Hafen eröffnete das Tai Pak Restaurant, gebaut nach Vorbild eines traditionellen, festlandchinesischen Palastes. Um 1980 wurde es an den schwerreichen, ursprünglich aus Hong Kong stammenden Unternehmer Stanley Ho verkauft. Er vereinte drei konkurrierende Restaurantschiffe unter dem königlichen Namen Jumbo Kingdom.
Interessanterweise entstand das dritte Restaurantschiff Jumbo in der Zeit der chinesischen Kulturrevolution. Damals zerstörten sogenannte rote Garden zahlreiche traditionelle Bauten und historische Denkmäler in China. Dieses Restaurant hingegen sollte an einen traditionellen, chinesischen Palast erinnern. Dies ist ein mögliches Indiz dafür, dass sich lokale Bewohnerinnen und Bewohner in Hong Kong mit chinesischen Traditionen verbunden fühlten.
Der schnell berühmte Touristenmagnet zog innerhalb von 44 Jahren über 30 Millionen Gäste an. Das Schicksal des Jumbo-Restaurantboots war dennoch besiegelt: Nach einem Besitzerwechsel wollte es der neue Eigentümer scheinbar nach Kambodscha umplatzieren. 2022 legte das wenig hochseetauglich erscheinende Restaurantschiff ab und ging nur fünf Tage später im südchinesischen Meer unter.
Nicht nur traditionell-chinesische und kolonial-britische Einflüsse, sondern auch moderne Architektur prägte der Hafen von Aberdeen. Dies wurde eindrücklich vom Schweizer Geografen Gustav Neuenschwander im Jahre 1980 festgehalten: Die neu gebauten Hochhäuser hinter den Dschunken zeugen deutlich vom Wandel des Hafens. Auch die shui-jen passten sich dem Zeitgeist an: Ihre Anzahl wurde anfangs der 1960er Jahre noch um 150’000 geschätzt – knapp zwanzig Jahre später lebten nur noch etwa 40’000 auf ihren Booten.
In der Zeit um 1980 fotografierte Neuenschwander diese Kinder, die vom Boot aus mit modernen Plastikschwimmhilfen baden. Zum heutigen Zeitpunkt leben, je nach Informationsquelle, noch ein paar Dutzend bis wenige hundert Menschen in Aberdeen Floating Village. Gesichert ist jedoch, dass die meisten nicht mehr permanent auf den Dschunken leben, sondern diese als Fischerboote benutzen. Die shui-jen prägten die Entwicklung der Hafeninfrastruktur entscheidend mit. Noch heute spielt der Hafen von Aberdeen eine gewichtige Rolle in der Fischereiindustrie: Sein Fischmarkt ist einer der ältesten und grössten in der Region.
Sichtbar bleibt die traditionelle Dschunke mit Lugger-Segel, die von Bambusstäben unterteilt sind. Sie segelt vor der Kulisse moderner Hochhäuser, vor dem Schriftzug ‹Grundig› und vor einem motorisierten Passagierschiff. Doch der erste Blick täuscht – auch die Funktion der traditionellen Dschunke wandelte sich. Die Dschunken dienten als Wohnraum, für die Fischerei, für Schmuggelgeschäfte und als Touristenattraktion. Nebst dem Dschunken-Sujet verbindet auch die gemeinsame Perspektive unzähliger Reiseaufnahmen und Postkarten: Es ist der touristische oder koloniale Blick auf Hong Kong. Es sind Fotografien von aussergewöhnlich erscheinenden Bildmotiven, aufgenommen von Schweizer Wissenschaftlern und Fotoreportern. Was hinter den Fotografien verborgen bleibt, ist beispielsweise die Innenausstattung der Dschunken, die Landbevölkerung und deren Lebensweise, die unzähligen Streiks und Proteste, und damit die Spannungen zwischen lokalen und kolonialen Kräften.
Somit zeigen die Fotografien eine einseitige Wahrnehmung. Dennoch geben sie einen eindrücklichen Ausschnitt einer vergangenen Welt in Aberdeen Harbour wieder: als lückenhafter Spiegel der traditionellen, kolonialen und zeitgenössischen Geschichte Hong Kongs.
Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart rückt Hong Kong wiederholt in den Fokus der Geopolitik. Umso dringender stellen sich folgende Fragen: Wie gehen politische Kräfte Hong Kongs in naher Zukunft mit ihrer Geschichtsschreibung um und wie wird die Erinnerung bewahrt? Deshalb ist der öffentliche Zugang zu historischen Bildern zentral. Solche Fotografien des Hafens, insbesondere der shui-jen, leisten ihren Beitrag zur Visualisierung der Geschichte für die Gesellschaft Hong Kongs – was erwirkt, dass vergangene Welten nicht in Vergessenheit geraten.
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Dieser Text ist im Rahmen der Übung “Digitale Bilder und Bildarchive” von Prof. Dr. Monika Dommann am Historischen Seminar der Universität Zürich (UZH) entstanden.
Ein GANZ guter Blog! Spannend, informativ, nachdenklich stimmend, aufrüttelnd und lehrreich in jeder Hinsicht … DANKE fürs umfangreiche Recherchieren und fürs packende Schreiben! –
Auf die shui-jen und die Dschunken; auf den Erhalt der Kultur und des Friedens – und dass wir nicht vergessen …