Über vierzig Jahre lang gehörte die ETH Parkgarage zu Harald Naegelis Lieblingsplätzen. Die ersten Sprayzeichnungen, die er hier machte, datieren aus den 1970er-Jahren. Die letzten entstanden 2019. Auch in den über dreissig Jahren, in denen der Sprayer von Zürich seinen Wohnsitz aus politischen Gründen nach Düsseldorf verlegt hatte, kehrte er auf seinen kürzeren oder längeren Stippvisiten in seine Vaterstadt immer wieder an diesen Ort – oder Unort – zurück, um neue Graffiti zu machen oder bereits vorhandene, etwas in die Jahre gekommene, aufzufrischen oder zu ergänzen.
Harald Naegeli, Figur Ki-00274-08, Zustand Oktober 2015 (ETH-Bibliothek, Kunstinventar)
Harald Naegeli, Figur Ki-00274-08, Zustand Dezember 2019 mit Ergänzungen (ETH-Bibliothek, Kunstinventar)
Harald Naegeli, Figur Ki-00274-12, Zustand Oktober 2015 (ETH-Bibliothek, Kunstinventar)
Harald Naegeli, Figur Ki-00274-12, Zustand Dezember 2019 mit Ergänzungen nach Wasserschaden (ETH-Bibliothek, Kunstinventar)
Insgesamt etwa 40 Graffiti sind so über den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten entstanden und haben aus der unwirtlichen Tiefgarage ein Gesamtkunstwerk, ein einzigartiges Höhlenmuseum gemacht. Nirgendwo auf der Welt findet sich eine vergleichbare Graffiti-Sammlung von Harald Naegeli, die 2020 mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich ausgezeichnet wurde.
© Luca Zanier
© Luca Zanier
Der sorgfältige Umgang der ETH Zürich mit den Graffiti im Zuge der notwendigen Sanierung der ETH- Parkgarage ist ein Zeichen der Wertschätzung gegenüber Harald Naegelis Werk. Allen Bemühungen zum Trotz können jedoch nicht alle 40 Graffiti erhalten werden. Ein gutes Dutzend der Sprayzeichnungen wird dem Umbau notgedrungen zum Opfer fallen. Das ist ebenso bedauernswert wie verständlich. Graffiti gehören zur ephemeren Kunst, sind nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern auf Zeit angelegt.
Diesen Umstand hat das Musée Visionnaire im Rahmen von Workshops für Kinder und Jugendliche in der ETH Garage aufgenommen. Schülerinnen und Schüler wurden unter der Leitung von Manuela Hitz, künstlerische Leiterin des Musée Visionnaire, und den Klassenlehrerinnen Christina Studer und Patrizia Studer über mehrere Wochen an die Thematik herangeführt, um sich schliesslich auf ihre eigene Art mit dem, was ist – und dem, was bleibt oder eben nicht bleibt – auseinanderzusetzen.
© Caroline Minjolle
© Caroline Minjolle
Evelyn Steigbügel hat den Prozess mit der Kamera begleitet. Entstanden ist ein Video, das Einblick in zeitgemässe Vermittlungstätigkeit gibt und zeigt, wie Kreativität ausserhalb des Schulzimmers individuell und unkonventionell freigesetzt werden kann.
Sechstklässler, die im Rahmen des Pilotprojekts «Schule im Museum» jede Woche einen Morgen im Musée Visionnaire verbringen, werden in der ETH Garage zu engagierten Vermittler*innen und geben ihr Wissen an jüngere Kinder weiter. Andere machen sich Gedanken zu Kunst und ihrer Vergänglichkeit, drücken sich gestalterisch aus, werden zu einem Rap inspiriert oder interpretieren die Graffiti mit akrobatischen Einlagen.
© Manuela Hitz
Die Spinne beim Ausgang
Sie mag den Ort denn es hat viel Staub. Schon lang ist sie da, denn sie lauert und beobachtet alles um sie herum. Niemand ist vor ihr sicher. Doch jetzt muss sie noch einiges aufschnappen bis sie verschwindet. Sie wird noch ein Netz spannen und damit so viel wie möglich abfangen. Ich werde ihr noch einmal danken, dass sie mir ein Teil von ihr und ein Teil von Harald Naegeli gezeigt hat. Hoffentlich können das die anderen Graffitis auch so gut wie die Spinne. Denn es interessiert mich sehr wie Harald Naegeli sprayt oder was seine Graffitis ausstrahlen. Spinne du bist weg. Jetzt hast du ausgenetzt.
Aglaja, 12 Jahre
© Manuela Hitz
Der stets weglaufende Fisch!
Lieber Fisch!
Du versuchst wegzulaufen, doch vor der Veränderung kann man nicht weglaufen! Ein grosses, starkes Graffiti bist du und du schaust immer gerade aus! Doch wie wirst du reagieren, wenn viele deiner Freunde verschwinden? Wird sich deine Laufbahn einschränken? Gibt es dann überhaupt noch einen Grund wegzulaufen?
Wenn alles verschwindet und die ETH-Garage nur noch eine normale Autogarage ist!
Lieber Fisch, du warst für mich immer eine Aufmunterung!
Wenn es mir mal nicht gut ging, sah ich mir immer deinen Blick, der stets, stolz nach vorne sieht. Auch wenn du Angst vor etwas hattest und man das auch sah du liefst immer weiter egal was passierte! Denn die Angst kann uns auch antreiben!
Also sei nicht traurig! Veränderungen sind meist schmerzhaft, aber sie können einem auch ein ganz neues Blickfeld geben!
Sieh weiterhin nach vorne und sei stolz darauf, dass du ein von Harald Nägeli gespraytes Graffiti bist!
Ich werde die Anderen auch vermissen!
Deine Inga
Inga, 12 Jahre
© Manuela Hitz
Graffiti mit Rad
Ich mag das Graffiti, weil es einfach ist. Zuerst sah ich vor allem Striche. Doch mit der Zeit entdeckte ich das Wesen mit dem Rad in den Strichen. Dieses Graffiti gehört zu den ungefähr 40 Graffitis in der Garage der ETH Zürich. 1979 wurde Naegeli beim Sprayen vom Hauswart ertappt. Leider werden einige Graffitis bald einer Sanierung zum Opfer fallen und verschwinden. Wenige werden zum Glück gerettet.
Dieses Graffiti ist ruhig und unauffällig und besteht fast nur aus Ecken und Linien, die auch an die Leitungsrohre an der Decke erinnern. Das Rad fällt auf. Es sei das Rad des Fortschritts. Dinge verändern sich, und das Rad dreht sich weiter und weiter. Das Rad regt zum Nachdenken und Weiterentwickeln an. Tictac Tictac Tictac… Luis und mich hat es zu Luftsprüngen mit Velorädern inspiriert.
Anouk, 12 Jahre
Dank den Workshops in der ETH Garage wurden die Jugendlichen zu Zeitzeugen eines Kulturgutes, das es in dieser Form in absehbarer Zeit nicht mehr geben wird, durch ihre aktive Auseinandersetzung mit den Graffiti jedoch im Sinne eines lebendigen Archivs in Erinnerung bleiben wird.
Im Rahmen unserer Vermittlungsworkshops mit «Schule im Museum» haben wir zahlreiche Führungen und Workshops in der Garage mit Kindern und Erwachsenen durchgeführt:
Von März – Mai 2021
– haben über 600 Kinder und 300 Erwachsene die Garage besucht.
– haben 15 Kinder andere Kinder durch die Garage geführt.
– haben wir 23 Workshops organisiert.
– fanden in Kooperation mit guerillaclassics zwei musikalische Naegeli-Spaziergänge statt.
– wurden über 2000 Fotos geknipst.
– wurden 18 Abschiedsbriefe verfasst.
– ist ein Film von Evelyn Steigbügel entstanden.
Übrigens: Die Ausstellung «Harald Naegeli – der bekannte Unbekannte» im Musée Visionnaire am Predigerplatz 10 in Zürich zeigt den bekannten Sprayer von Zürich bis zum 19. Dezember 2021 von einer überraschend unbekannten Seite.
Die ETH-Garage und der Umgang mit den darin enthaltenen Werken von Harald Naegeli werden auch Thema des Podiumsgesprächs im ZAZ Zentrum Architektur Zürich am 31.08.2021 um 19 Uhr sein. Podiumsteilnehmer: Linda Schädler (Leiterin Graphische Sammlung ETH Zürich und Mitglied der Kommission Kunst am Bau der ETH Zürich), Philip Ursprung (Professor für Kunst- und Architekturgeschichte am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH Zürich), Tobias Hotz (Konservator/Restaurator und Steinbildhauermeister)
Die Parkgarage im Hauptgebäude der ETH Zürich bleibt während der Sanierungsarbeiten bis September 2022 geschlossen. Mehr Informationen unter https://ethz.ch/de/campus/entwickeln/bauprojekte/hg-projekt.html
Alle Werke von Harald Naegeli in der Parkgarage der ETH Zürich sind im E-pics Bildkatalog Kunstinventar zu sehen.
Weitere Links:
Ein Augenschein zeigt, dass manche der Graffiti Naegelis, die vor dem Umbau noch ziemlich intakt waren, nun nur noch fragmentarisch erhalten sind. Wahrscheinlich wurden die Betonwände dort mit einem Hochdruckreiniger abgespritzt (testhalber?). Entsprechende Fotos sind auf https://www.mural.ch/index.php?kat_id=w&id2=4471 zu finden.