„Das tiefe Bedürfnis ein grosses Unglück ein wenig zu verstehen“

In einem Brief vom 21. April 1936 richtet eine verzweifelte Mutter folgende Worte an Carl Gustav Jung, den weltberühmten Begründer der analytischen Psychologie:

“Lieber Herr Prof.

Ich habe in den letzten Semestern in den meisten Ihrer Vorlesungen mit grossem Interesse und grosser Bewunderung Ihren Ausführungen gefolgt. Leider hat mich nicht nur ein platonisches Interesse an dieser Wissenschaft dazu geführt, sondern das tiefe Bedürfnis ein grosses Unglück ein wenig zu verstehen zu versuchen, das mich in Form einer schweren Erkrankung meines Sohnes, – zugleich eines Sohnes vom Prof. A. Einstein, dem bekannten Physiker – getroffen hat.”

Bei der Autorin handelt es sich um Mileva Einstein, geborene Maric und erste Ehefrau des berühmten theoretischen Physikers Albert Einstein. Mileva Maric und Albert Einstein hatten sich während des Studiums an der ETH Zürich kennen und lieben gelernt. Aus dieser Beziehung gingen drei Kinder hervor. Das Schicksal der erstgeborenen Lieserl ist bis heute nicht gänzlich geklärt. Nach ihrer Geburt wird sie in einigen wenigen Briefen zwischen Albert und Mileva erwähnt, verschwindet dann jedoch völlig aus den Quellen. Das zweite Kind, Hans Albert, wird 1904 geboren. Im oben zitierten Brief ist jedoch vom dritten Kind die Rede.

Eduard Einstein kommt am 28. Juli 1910 in Zürich zur Welt. Als Vater Albert einen Ruf an die Preussische Akademie der Wissenschaften erhält, zieht die Familie im April 1914 von Zürich nach Berlin. Für Mileva und die Kinder ist der Aufenthalt in Berlin allerdings nur von kurzer Dauer, denn Albert und Mileva trennen sich, und Mileva Einstein kehrt mit den Söhnen zurück nach Zürich.

Foto Eduard Einsteins aus dem Jahr 1955 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv DOI: 10.3932/ethz-a-000045726)

Eduard scheint ein schüchternes und eher kränkliches Kind gewesen zu sein. Schulisch ist er sowohl in den sprachlichen wie auch in den mathematischen Fächern sehr begabt. Er beginnt früh Gedichte zu schreiben, entscheidet sich jedoch nach abgeschlossener Matura für das Studium der Medizin. Sein Hauptinteresse richtet sich auf die Psychiatrie und insbesondere auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds.

Kaum hat er mit dem Studium begonnen, verliebt sich Eduard Einstein unglücklich in eine ältere Frau und gerät in eine schwere psychische Krise, die nach einigen Monaten in einen Zusammenbruch mündet. Von dieser Krise erholt er sich nicht mehr. 1932 wird Eduard vorübergehend, 1933 auf unbestimmte Zeit mit der Diagnose Schizophrenie in die Nervenheilanstalt Burghölzli eingeliefert.

Brief Mileva Einsteins an C.G. Jung, 21.04.1936 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1056:4368)

Da sein Bruder Hans Albert 1927 nach Dortmund und später in die USA auswandert, lastet die gesamte Bürde der Pflege und Sorge um Eduard auf seiner Mutter Mileva, was den verzweifelten Ton des Briefes an C.G. Jung erklärt.

„Schon manches Mal hatte ich den Wunsch, Sie zu bitten, meinen Sohn einmal zu sehen und mir vielleiert[sic!] einen Rat zu geben oder doch Ihre Meinung über seinen Zustand zu äussern. Nun bin ich aber leider, zu allem anderen Unglück in der letzten Zeit sehr verarmt und wäre kaum zu einer Gegenleistung für Ihre Mühe im stande, die ihrem Wert für mich einigermassen entsprechen würde, und das hielt mich immer zurück. Aber vielleiert[!] wollten Sie mir doch eine kleine Unterredung gestatten, ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür.“

Eine Antwort C.G. Jungs auf das Schreiben ist nicht erhalten geblieben. Auf dem Brief findet sich jedoch in Bleistift eine Randnotiz von anderer Hand: „geschrieben dass noch in den Ferien“. Jung scheint demnach dem Wunsch von Eduards Mutter nicht nachgekommen zu sein.

Vater Albert Einstein besucht seinen Sohn nach dessen Zusammenbruch noch dreimal, zuletzt 1933. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im selben Jahr verlässt Albert Einstein Deutschland und emigriert in die USA. Seinen kranken Sohn besucht er auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Bald bricht er auch den schriftlichen Kontakt ab. Nach Mileva Einsteins Tod 1948 verbringt Eduard Einstein die meiste Zeit im Burghölzli. Einzig Carl Seelig, der erste Biograph Albert Einsteins, kümmert sich um ihn und führt ihn zu Spaziergängen aus.

Laut Thomas Huonker verfasst Eduard Einstein auch in der Psychiatrischen Klinik weiterhin Gedichte. In Huonkers Publikation Diagnose: «moralisch defekt»: Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970 ist eines der Gedichte abgedruckt, die sich in Eduard Einsteins Patientendossier befinden.

Einsames Ende

Ahnt, wie ich einsam sterbe,
Lautlos schwinde
Und in keine Rinde mein Dasein kerbe.
Was ich gesät,
Haben die Winde leer verweht.
Was ich gedämmt, hat schon geschwinde
Der Bach fortgeschwemmt.

Ahnt, wie ich einsam sterbe,
Und wie die Scham
Mir meinen Halt,
Mir alles nahm.

Anmerkung des Autors: Die Einstein-Expertin Barbara Wolff weist in einem Kommentar zu diesem Beitrag darauf hin, dass das oben wiedergegebene Gedicht bereits 1926 und damit vor Eduard Einsteins Erkrankung entstanden sei und nicht im Zusammenhang mit seiner Schizophrenie steht. Die Aussage basiert auf einem Brief Eduard Einsteins an Martha Nothmann vom 11.8.1927 und den dem Brief beigelegten «Stilblüten», die in den Albert Einstein Archives in Jerusalem aufbewahrt werden. Das Patientendossier Eduard Einsteins im Staatsarchiv Zürich ist noch unter Verschluss und konnte vom Autor nicht eingesehen werden.

Eduard Einstein stirbt am 26. Oktober 1965 in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli.

Literatur:

Robert Dünki & Anna Pia Maissen: «…damit das traurige Dasein unseres Sohnes etwas besser gesichert wird» Mileva und Albert Einsteins Sorgen um ihren Sohn Eduard (1910–1965). Die Familie Einstein und das Stadtarchiv Zürich In: Stadtarchiv Zürich. Jahresbericht 2007–08.

Thomas Huonker: Diagnose: «moralisch defekt» Kastration, Sterilisation und «Rassenhygiene» im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890–1970. «Er versank immer mehr in Apathie und Untätigkeit» Prominente als Patienten, Zürich 2003.

Trbuhovic-Gjuric, D. Im Schatten Albert Einsteins. Das tragische Leben der Mileva Einstein-Maric, Bern: Paul Haupt (1988)

Popović, M. (ed.) In Albert’s Shadow: The Life and Letters of Mileva Marić, Einstein’s First Wife (2003). Johns Hopkins University Press.

4 Gedanken zu „„Das tiefe Bedürfnis ein grosses Unglück ein wenig zu verstehen““

  1. Bedauerlich, dass auch hier fast-korrekte Fakten in einer Weise wiedergegeben werden, die ein irrefuhrendes Bild zeigt. Besonders trügerisch ist die Datierung des Gedichts, das angeblich zum Ausdruck bringe, ‘wie sehr [der hospitalisierte Eduard] unter seiner Situation leide’.
    Tatsächlich hat Eduard dieses Gedicht 1926, lange vor dem Ausbruch seiner Krankheit, unter dem Eindruck der Lebensgeschichte des Otto Braun geschrieben: Julie Braun-Vogelstein: Otto Braun. Aus nachgelassenen Schriften eines Frühvollendeten. – Mit diesem hochbegabten, als Lyriker hervorgetretenen Gleichaltrigen konnte und wollte sich der jugendliche Eduard identifizieren; dies sicherlich nicht zuletzt, weil dessen früher Tod ihn davon entlastete, sich als erwachsenes Genie beweisen zu müssen.

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