«Beruht Thomas Manns ‹Zauberberg› auf Fehldiagnose?», fragten am 9. April 1982 die Westfälischen Nachrichten. «Ein Röntgenbild bringt es an den Tag», wusste am selben Tag das Mindener Tageblatt, und so machte die Anekdote, dass Thomas Manns Roman Der Zauberberg sich einer Fehldiagnose verdanke, seit den frühen 1980er-Jahren in der Presse die Runde.
Die Vermutung geht auf den Mediziner Christian Virchow zurück, der in der Folge des Pressesturms selbst detaillierten Bericht darüber ablegte.
Virchow, der 1959 als junger Facharzt für Lungenkrankheiten nach Davos kam und später lange Jahre die Davoser Hochgebirgsklinik leitete, hatte früh ein Interesse an Thomas Manns Zauberberg-Roman und dessen medizinhistorischen Hintergründen. Mann war 1955 in Zürich verstorben, und so nahm Virchow 1960 zunächst mit der Tochter Erika Mann Kontakt auf. 1966 besuchte er Katia Mann, Thomas Manns Witwe, in Kilchberg. Die «Kronzeugin» selbst, wie Virchow sie nennt, konnte er über die damaligen Verhältnisse befragen.
Denn Katia Mann, damals noch keine 30 Jahre alt, verbrachte ab 1911 mehrere Kuraufenthalte in den Schweizer Bergen. ‹Tuberkulose›, lautete damals die Diagnose.
Als sich Katia Mann 1967 in Klosters aufhielt, suchte sie ihrerseits Virchows medizinischen Rat, und im Jahr darauf kam es zu einem weiteren Treffen in Davos. Virchow erfuhr Details ihrer Krankengeschichte und ihrer Kuraufenthalte in Sils Maria, in Ebenhausen im Isartal, in Meran, in Arosa. Und sie erzählte ihm auch von ihrem Aufenthalt im Davoser Waldsanatorium, wo Thomas Mann sie 1912 besuchte und Inspiration für den Roman fand.
Ein Ergebnis des Austauschs zwischen Christian Virchow und Katia Mann war auch ihre ‹Neudiagnostizierung›. «1967 hatte ich bei der damals 84jährigen eine Lungenübersichtsaufnahme anfertigen lassen», berichtet Virchow: «Von alten tuberkulösen Veränderungen keine Spur.»
1970 schließlich erhielt Virchow von ihr einen dicken Brief. «In dem äußeren Couvert steckte ein gefütterter Briefumschlag, der drei alte, kleinformatige Röntgenbilder, 9 mal 12 cm groß, enthielt, zumindest zwei davon – wie die Aufschrift verriet – aus dem Jahre 1912.» Beim Vergleich mit der neueren Aufnahme kam er zum Schluss, dass auch auf den alten Bildern «keine gröberen pathologischen Veränderungen» zu sehen seien.
Wo sich die historischen Röntgenaufnahmen, die Virchow damals erneut «gegen das Licht» (GKFA 5.1, 367) hielt, heute befinden, ist nicht klar. Zumindest ein Röntgenbild von Katia Mann besaß der mittlerweile verstorbene Virchow noch im Jahr 2014, wie SRF berichtete.
Spurlos verschwunden sind sie jedenfalls nicht: In den Beständen des Thomas-Mann-Archivs befindet sich eine Fotografie, die Virchow selbst von den Röntgenplatten machte – vermutlich wohlweislich so belichtet, dass die Platten selbst als medizinische Unterlagen nicht zu deuten sind. Ganz klar ist dagegen Katia Manns Handschrift auf dem Umschlag zu lesen, in den sie die Aufnahmen damals verpackte: «Davos: März, September 1912.»
Vor welchen Herausforderungen stand die Röntgendiagnostik damals? Wie begegnet ihnen die heutige Medizin? Marco Stampanoni, Professor für Röntgenbildgebung, und Julia Vogt, Professorin für Computer Science an der ETH Zürich, berichten in einem Videobeitrag des Thomas-Mann-Archivs, wie die aktuelle Forschung an der ETH die Behandlung von Patient:innen verbessern wird.
Literatur
Christian Virchow: Geschichten um den «Zauberberg», in: Deutsches Ärzteblatt, Nr. 5, Feuilleton, S. 263–265; Fortsetzung in: Deutsches Ärzteblatt, Nr. 6, Feuilleton, S. 316–319
Ders.: Medizinhistorisches um den «Zauberberg». Augsburger Universitätsreden 26, hg. vom Rektor der Universität Augsburg, Augsburg 1995; Zitate von Virchow sind dieser Publikation entnommen.
Ders.: 80 Jahre «Der Zauberberg». Über die Reaktion der Ärzte auf den Roman Thomas Manns, in: Pneumologie 58/11 (2004), S. 791–802
Beitragsbild: Pulmonary TB: plain chest x-ray. Wellcome Collection. Quelle: Wellcome Collection.