Mit dem 1881 veröffentlichten Werk Die Lauinen der Schweizeralpen gilt der Forstingenieur und erste Eidgenössische Forstinspektor Johann Wilhelm Coaz (1822-1918) als Pionier der Lawinenforschung. Mit seiner Forschung leistete er einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung des Lawinenschutzes in der Schweiz.
Coaz hatte in seinen frühen Berufsjahren von 1844 bis 1851 als topographischer Vermesser für die ersten amtlichen Kartenwerke der Schweiz zahlreiche Berge bestiegen und dabei eine grosse Datensammlung angelegt (Flütsch 2023, S. 24):
Was mich zum Studium der Lauinen und ihrer Verbauungen hinführte, war meine einstige Stellung als Mitarbeiter an der Aufnahme des Schweizer-Atlasses und seit 30 Jahren meine Beamtung als Gebirgsforstmann. Das in dieser Zeit angehäufte Material glaubte ich nicht länger liegen lassen, sondern gesichtet und geformt an’s Licht bringen zu sollen, und dies um so beförderlicher, als die gewonnenen Erfahrungen in Verbau und Aufforstung von Lauinenzügen manchen Nutzen zu bringen, mache Gefahr zu beseitigen und manchem Bedrohten die ersehnte Sicherheit zu verschaffen im Falle sein werden (Coaz 1881, S. 4).
Der erfahrene Berggänger schätzte Lawinen als die grösste Naturgefahr in den Alpen ein, die aber, wie er feststellte, bis dahin kaum erforscht waren (Coaz 1881, S. 4). 1846 hatte er bei topographischen Vermessungen im Unterengandin selbst eine Lawine ausgelöst und war von ihr mitgerissen worden. Das Ereignis beschrieb er in seinem Werk wie folgt:
Es war ein schwüler Tag, das Waten im durchtränkten Schnee höchst mühsam, desshalb der kleine Schneehang gegen die Mulde von Rims zu einer Rutschpartie sehr verführerisch. Der Hang war aber so steil, dass ich das Wagnis zunächst allein, ohne den Diener, der das Messinstrument trug, versuchen wollte. Stehend war das Hinunterrutschen der Steilheit und der Weiche des Schnees wegen unmöglich; ich setzte mich also hin und fuhr, auf die schon so häufig geübte Weise hinunter. Es ging anfangs vortrefflich. Ich gewahrte indess bald in der Richtung meiner Fahrt einen Felskopf aus dem Schnee hervorstehen und wollte anhalten, um seitwärts auszuweichen. Die Schnelligkeit meiner Bewegung war aber so gross und der Schnee so weich, dass ich mit den Beinen tief in den Schnee fuhr und dann den Hang hinunterkollerte. Zugleich hatte sich eine Lauine gelöst. Ohne die Geistesgegenwart zu verlieren, suchte ich meinen Körper in die Längsrichtung zum Hang zu bringen, um eher anhalten zu können. Diese Wendung gelang mir zwar, aber nun flog ich in weiten Bogen über den Hang bis in die Ebene hinunter, immer jedoch an der Oberfläche der Lauine mich erhaltend. Zum Glück war mir die Spitze der Lauine vorausgeeilt und hatte das Steingeröll (Moräne) am Fusse des Gletschers bedeckt, so dass ich keinen Schaden nahm. Sobald ich zum Stillstand gekommen war, sprang ich auf, um meinem Diener, der dem ganzen Vorgang angstvoll zugesehen hatte, zu zeigen, dass Alles gut abgelaufen sei, und deutete ihm umzugehen, was er wohl auch ohnedem gethan hätte (Coaz 1881, S. 66).
Coaz war davon überzeugt, dass mit einer umfassenden Wissensgrundlage über die Entstehung und den Verlauf von Lawinenereignissen ein «wirkungsvoller» präventiver Schutz vor Lawinen möglich sei (Flütsch 2023, S. 8). Er kritisierte an den zeitgenössischen Lawinenschutzmassnahmen, dass sie nicht darauf ausgerichtet waren, Lawinenabgänge präventiv zu verhindern, sondern nur ihre zerstörerischen Kräfte abzumindern (Coaz 1881, S. 102, 107).
Coaz forstwirtschaftliche Ausbildung und Arbeit als Forstinspektor des Kantons Graubünden (1851-1873), des Kantons St. Gallen (1873-1875) und als erster Eidgenössischer Forstinspektor (1875-1914) hatten einen starken Einfluss auf seine Forschung über Lawinen. Denn im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Bedeutung von Wäldern als wirkungsvoller Schutz gegen Naturgefahren wie Hochwasser und Erdrutsche zunehmend wissenschaftlich diskutiert. Schutzwälder wurden bestimmt und gesetzlich geschützt (Flütsch 2023, S. 30). Damit sollte sichergestellt werden, dass sie durch eine geeignete Bewirtschaftung ihre Schutzfunktion erfüllen konnten und nicht für die Nutzung als Weideflächen abgeholzt wurden. Unter der Federführung von Coaz war im Kanton Graubünden eine «revidierte Forstordnung» ausgearbeitet worden und 1858 in Kraft getreten, die neu bestimmte, dass an geeigneten Stellen die Aufforstung neuer Schutzwälder angeordnet werden konnte. Darin wurde erstmals ausdrücklich festgehalten, dass diese auch zum Schutz gegen Lawinen dienen sollten (Flütsch 2023, S. 26-28).
Weil aber Lawinenabgänge häufig die Schutzwälder zerstörten oder in ihrer Schutzfunktion massiv schwächten, forderte Coaz, dass für einen ausreichenden Lawinenschutz auch Lawinenverbauungen erbaut werden sollten:
Das eidgenössische Forstgesetz verlangt zwar Wiederbestockung aller Waldblössen, aber in Lauinenzügen ist diese Arbeit nutzlos, so lange dieselben nicht verbaut sind. In den meisten Fällen kommt der Wald in dem aufgerissenen Boden der Lauinenzüge von Natur rasch wieder auf, aber wenn auch das Vieh und die Sense fern gehalten werden, so entwickeln sich die Pflanzen doch nur bis zu etwa 1-2m Höhe und werden dann von der nächstziehenden Lauine gebrochen (Coaz 1881, S. 99).
Coaz verwies dabei auf die erste ihm bekannte Lawinenverbauung, die nach einem Lawinenabgang 1867 auf dem Berg Motta d’Alp bei Tschlin vom Bündner Forstinspektorat geplant und erbaut worden war, als er noch das Amt des Forstinspektors des Kantons Graubünden innehatte (Flütsch 2023, S. 52). Weil die Lawine zahlreiche Bäume mitgerissen hatte, wurden durch den Verkauf dieses Holzes an der Stelle, wo sich die Lawine gelöst hatte, der Bau von insgesamt 19 Mauern und 17 Pfahlreihen finanziert, die zusammen mit dem Schutzwald weitere Lawinenabgänge verhindern sollten. Die Massnahmen schienen wirksam zu sein, denn wie Coaz schrieb, ging danach in diesem Gebiet keine weitere Lawine nieder (Coaz 1881, S. 109).
In den folgenden Jahren wurden in der Schweiz und im ganzen Alpenraum ähnliche Lawinenverbauungen erbaut. Das von Coaz vorgeschlagene Konzept des Lawinenschutzes mittels Schutzwälder und Lawinenverbauungen wurde weiterentwickelt und hat in vielen Grundsätzen bis heute nicht an Gültigkeit verloren (Flütsch 2023, S. 8).
Literatur:
Michael Flütsch (2023): Johann Coaz als Begründer des Lawinenschutzes in der Schweiz. Berner Studien zur Geschichte. Reihe 1: Klima und Naturgefahren in der Geschichte. Bd. 8. Bern: Open Publishing BOP.