In der Epoche der späten Globalisierung, imperialen Expansion und des technologischen Umbruchs im 19. Jahrhundert entstand ein Werk, das die vielfältige Welt der Karten in einem handlichen Format bündelt. Der erstmals 1894 erschienene „See-Atlas“ von Justus Perthes – als Ergänzung zu „Justus Perthes’ Taschen-Atlas“ – war dabei weit mehr als eine Sammlung von Seekarten: Er war ein umfassendes Kompendium der nautischen und physikalischen Seefahrtskunde. Und das in einem Format, das bequem in der Hosentasche Platz fand.
Der Justus Perthes’ See-Atlas (hier die 9. Ausgabe von 1912), entworfen und bearbeitet von Hermann Habenicht und ergänzt durch nautische Notizen und Tabellen von Erwin Knipping, verfolgt den Zweck, ein unentbehrlicher Begleiter für alle Seefahrer zu sein. Der Atlas ist dabei als nützliche Ergänzung zum weltweit verbreiteten Taschen-Atlas gedacht, da erst die Kartenbilder der Ozeane in Verbindung mit den Landkarten eine vollständige Anschauung der gesamten Erdoberfläche bieten. Dabei ist das Werk strikt auf einen praktischen Standpunkt und eine Verwendung an Bord ausgerichtet. Der Hauptzweck der beigefügten nautischen Notizen und Tabellen ist es, Seefahrern und Reisenden kurze, präzise Antworten auf die Fragen zu liefern, die das Leben auf See täglich mit sich bringt.
Der Atlas beginnt mit den fundamentalen geophysikalischen und astronomischen Grundlagen der Navigation. Die ersten Karten widmen sich dann dem nördlichen und südlichen Sternenhimmel, der für die Bestimmung der geographischen Breite auf offener See essentiell ist. Von ebenso entscheidender Bedeutung war die Visualisierung des Erdmagnetismus. Ein weiterer zentraler Teil des Atlas waren die Karten, welche die globale ozeanographische und meteorologische Systeme abbildeten. Durch die Darstellung von Meeresströmungen, Isothermen (Linien gleicher Temperatur) und Isobaren (Linien gleichen Luftdrucks) für jeweils Sommer und Winter wurde der Ozean in ein Netz von berechenbaren Strömungs- und Windsystemen übersetzt. So konnten Routen unter Ausnutzung günstiger Winde und Strömungen optimiert werden, wodurch sich Reisezeit und Ressourcenverbrauch signifikant reduzierten. Der Atlas fungierte somit als eine Art Betriebsanleitung für die globalen maritimen Verkehrsnetze.
Abbildung 1: Nordatlantischer Ocean im Winter (Tafel 9)
Der praktische Nutzwert für den Bordalltag wurde durch Knippings Fokus auf hohe Benutzerfreundlichkeit sichergestellt. Er verzichtete bewusst auf komplexe mathematische Formeln und integrierte stattdessen eine Fülle praxisrelevanter Informationen. Dazu zählen detaillierte Umrechnungstabellen für internationale Masseinheiten, 127 in die Regionalkarten integrierte Hafenpläne mit Angaben zu Wassertiefen sowie ein umfassendes Handbuch zur Sicherheit auf See.
Abbildung 2: Häfen des Grossen Ozeans (Tafel 21)
Die Realisierung dieses Werks wurde durch die Geographische Anstalt Justus Perthes in Gotha ermöglicht, die im 19. Jahrhundert das führende Zentrum der europäischen Kartografie war. Seit ihrer Gründung im Jahr 1785 hatte sich die „Gothaer Schule“ durch Publikationen wie „Stielers Hand-Atlas“ und die Fachzeitschrift „Petermanns Geographische Mitteilungen“ einen Ruf für hohe wissenschaftliche Präzision erarbeitet und die bedeutendsten geografischen Entdeckungen publiziert. Zentral für die Umsetzung des Atlas waren zwei Personen: der Kartograf Hermann Habenicht (1844–1917) und der Meteorologe und Kartograph Erwin Knipping (1844–1922). Habenicht, ein Zögling der Gothaer Anstalt und Schüler von August Petermann, war Meister des Kupferstichs und zeichnete die 24 hochpräzisen, kolorierten Karten. Knipping steuerte die nautischen Erläuterungen und Tabellen bei. Er war ein Mann mit zwanzigjähriger Erfahrung als Seemann und Mitbegründer des japanischen Wetterdienstes. Durch diese Zusammenarbeit verband die Gothaer Schule ihre wissenschaftliche Autorität mit der auf den Weltmeeren erprobten Praxistauglichkeit und schuf so ein beeindruckendes Werk von hoher Glaubwürdigkeit und Anwendbarkeit.
Abbildung 3: Die Geschenkexlibris-Etikette: „Schenkung des Vulkaninstituts Immanuel Friedländer“ (Provenienz im e-pics Katalog „Ex meis libris“)
Das Exemplar des See-Atlas, das sich im Besitz der ETH-Bibliothek befindet, stammt aus der 9. Auflage (von insgesamt zehn) aus dem Jahr 1912 und hat eine besondere Herkunft: Es stammt aus der Schenkung des Vulkaninstituts Immanuel Friedlaender in Neapel. Der deutsch-schweizerische Vulkanologe Immanuel Friedlaender gründete das Institut im Jahr 1914, um den Vesuv systematisch zu erforschen. Warum sich der See-Atlas in Friedlaenders Sammlung befand, ist nicht ganz klar. Die Tatsache, dass sich ein hochspezialisierter See-Atlas in der Bibliothek eines Vulkanologen befand, belegt jedoch, dass das Werk bereits damals als geowissenschaftlich bedeutend anerkannt war, über seinen rein nautischen Zweck hinaus. Ein Werk, das aufgrund seines praktischen Formats überall Verwendung finden konnte.
Verweise
- Privatbibliothek Immanuel Friedlaender auf e-rara.ch (30.10.2025)
- Geschichte der Sammlung Perthes Gotha (30.10.2025)

