Durchbruch in der Kernspinresonanz-Spektroskopie – Das Laborjournal «Experiments I»

Von aussen betrachtet deutet nichts darauf hin, dass sich im Laborjournal «Experiments I» von Richard R. Ernst (1933–2021), ETH-Professor für Physikalische Chemie, nobelpreiswürdige Aufzeichnungen verbergen. Es handelt sich um ein schlichtes Notizheft im A4-Format mit kariertem Papier und einer einfachen Metallringbindung. Beim Aufschlagen fallen höchstens die vergilbten Seiten und die inzwischen deutlich sichtbaren Leimspuren ins Auge, die auf das fortgeschrittene Alter des Journals hinweisen. Doch Ende 1964 notierte Ernst – damals noch Mitarbeiter der Firma Varian Associates in Palo Alto, Kalifornien – darin Überlegungen, die zu einer radikalen Verbesserung der Kernspinresonanz-Spektroskopie führten. Mit dieser Methode lässt sich heute die Struktur selbst komplexer Moleküle entschlüsseln. Ernsts Weiterentwicklung bildete zudem eine entscheidende Grundlage für die Entwicklung der Magnetresonanztomografie.

Das Laborjournal wurde 2025 im Rahmen des Erschliessungsprojekts restauriert und verzeichnet. ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1561:349. «Experiments I».

Das Prinzip der Kernspinresonanz-Spektroskopie wurde bereits in den 1940er-Jahren entdeckt. Einem Atomkern, der zuvor in einem Magnetfeld ausgerichtet wurde, lassen sich mit Radiowellen in der passenden Frequenz wertvolle Informationen über seine Anordnung innerhalb eines Moleküls entlocken. Zur Erinnerung: Moleküle bestehen aus Atomen, die wiederum aus einem Kern und einer Elektronenhülle aufgebaut sind. Viele Atomkerne besitzen einen Eigendrehimpuls, den sogenannten Spin. Jeder Kern mit Spin verfügt über ein magnetisches Moment und verhält sich dadurch wie ein winziger Magnet. In einem äusseren Magnetfeld richten sich diese Kerne wie Kompassnadeln entlang der Feldlinien aus. Werden sie mit Radiowellen der passenden Resonanzfrequenz angeregt, absorbieren sie dabei Energie. Sobald die Anregung endet, kehren die Spins in ihre ursprüngliche Ausrichtung zurück und geben die zuvor aufgenommene Energie wieder ab. Dieses Signal lässt sich messen und für die Gewinnung von Strukturinformationen über die Moleküle nutzen.[1]

Vor Richard R. Ernsts Weiterentwicklung in den 1960er-Jahren war die Methode jedoch sehr zeitaufwendig. Um vollständige Informationen über ein Molekül zu gewinnen, mussten sämtliche Resonanzfrequenzen nacheinander angeregt und aufgezeichnet werden. Ernsts revolutionäre Idee bestand darin, mit einem starken Breitbandimpuls alle Resonanzfrequenzen einer Kernsorte gleichzeitig anzuregen. Dadurch liess sich das mühsame Abarbeiten der einzelnen Frequenzen auf wenige Millisekunden verkürzen.

Dieses Vorgehen brachte allerdings ein neues Problem mit sich: Die von den Kernen abgegebene Energie führte zu einem unübersichtlichen Signal. Genau hier lag der eigentliche Schlüssel zu Ernsts Innovation. Mithilfe eines Algorithmus, der Fourier-Transformation, gelang es ihm, die hochkomplexen Signale effizient auszuwerten und in sinnvoll interpretierbare Spektren zu übersetzen. Kurz vor Weihnachten 1964 hielt er diese Überlegungen im Laborjournal «Experiments I» ab Seite 72 fest und klebte zugleich die ersten erfolgreich ausgewerteten Messungen ein.[2] Für diese wegweisende Arbeit erhielt Ernst 1991 den Nobelpreis für Chemie.[3]

ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1561:349. «Experiments I», S. 72–75.
ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1561:349. «Experiments I», S. 72–75.

Ende der 1960er-Jahre kehrte Richard R. Ernst in die Schweiz zurück. An der ETH Zürich wirkte er zunächst als Privatdozent, in den 1970er-Jahren wurde er Assistenzprofessor und später ordentlicher Professor für Physikalische Chemie. Mit seiner Forschungsgruppe entwickelte er die Kernspinresonanz-Methode kontinuierlich weiter. Seit Januar 2024 wird der umfangreiche wissenschaftliche Nachlass von Richard R. Ernst (Link: https://library.ethz.ch/ueber-uns/profil/projekte/erschliessung-nachlass-richard-r–ernst–erne-.html) archivarisch erschlossen und verzeichnet. Nach Abschluss der Arbeiten Ende 2025 werden die Dokumente im virtuellen Lesesaal des Hochschularchivs der ETH Zürich (Link: https://vls.hsa.ethz.ch) recherchierbar sein.

Bibliografie

Ernst, Richard R., und Matthias Meili. Richard R. Ernst – Nobelpreisträger aus Winterthur: Autobiografie. Baden: Hier und Jetzt, 2020.

NobelPrize.org. Press Release. «Revolutionary developments make a spectroscopic technique indispensable for chemistry.» Zugegriffen am 1. Oktober 2025. https://www.nobelprize.org/prizes/chemistry/1991/press-release/.

Titelbild: ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1561:349. «Experiments I», Ausschnitt S. 75.


[1] Siehe auch: Ernst und Meili, Richard R. Ernst – Nobelpreisträger aus Winterthur, 51-56.

[2] Siehe auch: Ernst und Meili, Richard R. Ernst – Nobelpreisträger aus Winterthur, 93-104.

[3] Siehe auch: NobelPrize.org, «Revolutionary developments make a spectroscopic technique indispensable for chemistry.»

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