Ein Reaktor-Simulator aus den Anfängen der Schweizer Kernforschung

«Wenn der Nationalrat in Bern zustimmt (…) brauchen wir keine Stauseen mehr!» Das aus einem 1945 veröffentlichten Zeitungsartikel stammende Zitat über den Bau von eigenen Atomkraftwerken verdeutlicht die grossen Hoffnungen, die während der Nachkriegsjahre in die neue Energieforschung gesetzt wurden.[1] Seit Juli 2024 befindet sich im Depot der Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel der ETH-Bibliothek ein Reaktor-Simulator aus dieser Anfangszeit der Schweizer Kernforschung.

Abb. 1: Reaktor-Simulator für den Forschungsreaktor Diorit, Landis & Gyr, 1956-1958, Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel, ETHZ_PHYS_1038, http://doi.org/10.21264/ethz-a-000025547, Bild: Stephan Bösch.

Massgeblich an der Entwicklung des Reaktors beteiligt war der Kernphysiker Paul Scherrer (1890-1969), Professor für Experimentalphysik an der ETH Zürich. Dieser initiierte1955 zusammen mit dem Industriellen und Gründer der BBC Walter Boveri (1894-1972) in Würenlingen (AG) die Gründung der «Reaktor AG». Am privatwirtschaftlichen Forschungszentrum waren über 120 Firmen beteiligt, die ein Interesse an der industriellen Nutzung von Atomtechnologie hatten. Die Gründung der Reaktor AG markierte den Einstieg der Schweiz ins Atomzeitalter.[2]

Nebst der Schweiz hegten auch andere europäische Staaten den Wunsch nach eigenen Atomreaktoren. Dieser entstand nicht zuletzt aus der nachkriegszeitlichen Abschottungspolitik der USA, welche bereits in den frühen 1940er-Jahren ein umfassendes Atomforschungsprojekt aufgesetzt hatten. Erst mit dem «Atomic Energy Act» von 1954 wurde zwischen zivilen und militärischen Anwendungen der Atomtechnologie unterschieden, was eine Öffnung sowie einen verstärkten Wissens- und Ressourcenaustausch ermöglichte.[3]

Nebst den hohen Erwartungen an die Atomtechnologie gab es auch kritische Stimmen, die eine militärische Nutzung der Atomenergie unter dem Vorwand ziviler Forschung befürchteten. Der Schriftsteller Kaspar Freuler thematisierte bereits 1946 in seinem Artikel «Atombombe Marke Winkelried?» die Problematik der staatlichen Unterstützung der Atomenergieforschung.[4] Trotz dieser Bedenken beschloss der Nationalrat im Dezember desselben Jahres die Förderung durch den Bund.[5]

Ein Wendepunkt für die Schweizer Forschung war 1955 die internationale Atomkonferenz in Genf unter dem Motto «Atoms for Peace», auf der unter anderem der amerikanische Versuchsreaktor SAPHIR vorgestellt wurde. Dieser konnte im Anschluss an die Konferenz von den Delegierten aus der Schweiz erworben werden.

Zeitgleich war der Bau eines eigenen Versuchsreaktors in Planung. Obwohl sich bei der Genfer Konferenz herausstellte, dass das Konzept bereits überholt war, beschloss die Reaktor AG Ende 1955 unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes den Bau des Reaktortyps P34, später «Diorit» genannt.[6] An der Entwicklung und Produktion waren überwiegend Schweizer Fachleute und Firmen beteiligt.

Der Diorit war ein sogenannter Schwerwasser-Reaktor, bei dem schweres Wasser (D₂O) zur Abbremsung der bei der Kernspaltung freigesetzten Neutronen eingesetzt wurde. Da dieses als Isotop in natürlichem Wasser vorkommt, konnte es in der Schweiz selbst hergestellt werden.[7] Der Reaktorkern bestand aus 210 Brennelementen, die insgesamt fast sechs Tonnen Uran enthielten. Da angereichertes Uran ausschliesslich aus dem Ausland bezogen werden konnte, entschieden sich die Wissenschaftler für natürliches Uran. Die erhoffte Entdeckung von Natururan in den Schweizer Alpen verlief jedoch erfolglos, sodass dieses schliesslich doch importiert werden musste.[8]

Abb. 2: Inbetriebnahme Diorit, Austestung der Betriebsdaten, Aufbau der Sprungquell-Apparatur, 1960 (ETH-Bibliothek Zürich, Hochschularchiv, ARK-NA-Zü:1.9).

1960 wurde die Reaktor AG an den Bund übergeben und unter dem Namen «Eidgenössisches Institut für Reaktorforschung» (EIR, heute Paul Scherrer Institut PSI) als Forschungsanstalt der ETH weiterbetrieben. Im selben Jahr am 15. August 1960 war es so weit und der Forschungsreaktor Diorit wurde erstmals kritisch, d.h. im Reaktor setzte eine sich selbst erhaltende nukleare Kettenreaktion ein. Wenige Tage später, am 26. August, wurde er von Bundespräsident Max Petitpierre mit den folgenden Worten eingeweiht: «Wir stehen vor dem ersten grossen Werk schweizerischer Reaktortechnik. Der DIORIT funktioniert.»[9] Mit der Inbetriebnahme des Diorit-Reaktors gehörte die Schweiz zu den ersten Ländern weltweit, die über einen eigenständig entwickelten und gebauten Kernreaktor verfügten.

In den darauffolgenden Jahren erfüllte der Diorit primär die Funktion einer Prüfanlage zur Erprobung geeigneter Materialien für den Reaktorbau. Nebst der Durchführung von experimentellen Untersuchungen für die Grundlagenforschung konnte auch radioaktives Material für medizinische, industrielle und wissenschaftliche Anwendungen hergestellt werden. Mit seiner Leistung von 20 MW (später auf 30 MW erhöht) stellte der Diorit zudem einen wichtigen Schritt in Richtung der Entwicklung eines energieproduzierenden Reaktors dar.[10]

Abb. 3: Diorit-Kommandoraum, ca. 1960 (ETH-Bibliothek Zürich, Hochschularchiv, ARK-NA-Zü: 1.9).

Das erfolgreiche Diorit-Projekt beeinflusste die Entwicklung der schweizerischen Atomtechnologie massgeblich. Der in den 1960er-Jahren in Lucens errichtete Versuchsreaktor stellte eine direkte Weiterentwicklung des Diorit dar. Im Januar 1969, nur knapp einen Monat nach der definitiven Inbetriebnahme, ereignete sich in Lucens jedoch ein folgenschwerer Unfall infolge einer Explosion im Reaktor. Dieser Vorfall markierte das Ende der schweizerischen Atomreaktorentwicklung und liess den Traum eines eigenen Reaktortyps endgültig scheitern.[11]

Der Forschungsreaktor Diorit blieb jedoch weiterhin in Betrieb. Erst 1977 wurde der Reaktor aufgrund der überholten Technologie endgültig abgeschaltet. 1994 wurde schliesslich der vollständige Rückbau des Diorit von der zuständigen Aufsichtsbehörde bewilligt. Die Stilllegung der Anlage ist bis heute im Gange.[12]

Nach der Abschaltung übergab das EIR den zum Reaktor gehörenden Simulator 1984 dem Swiss Science Center Technorama. Der zwischen 1956 und 1958 erbaute Simulator wurde von der Reaktor AG in Zusammenarbeit mit der Zuger Firma Landis & Gyr entwickelt. Er besteht aus einer Reaktor-Einheit, einer elektronischen Reaktorsteuerung sowie einer Schreiber-Einheit, die verschiedene Parameter wie Reaktorleistung und Temperatur der Uranstäbe sowie des Moderators registrierte. Die Steuerung stellt eine vereinfachte Nachbildung der Reaktorsteuerung dar. Ursprünglich diente der Simulator dem Studium des physikalischen Verhaltens des Reaktors; durch die Ergänzung der Steuerungskomponente konnte er auch für Ausbildungszwecke eingesetzt werden.[13]

Abb. 4: Technische Zeichnung der drei Elemente des Simulators, 1956-1958 (Erschliessungsakten, ETHZ_PHYS_1033).

Mit dem Reaktor-Simulator gelangte 2024 ein Zeugnis der frühen Schweizer Nuklearforschung in die Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel der ETH-Bibliothek. Dabei ist nicht nur die technische Entwicklung von Bedeutung, sondern auch die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen, mit denen die Atomforschung verbunden waren und die auch heute noch aktuell sind.


[1] Caloz, René: Kann man statt Atombomben schon Atomkraftwerke bauen?, 1945, ETH-Bibliothek Zürich, Hochschularchiv, ARK-NA-Zü: 1.6., S. 5.

[2] EIR: Das Eidgenössische Institut für Reaktorforschung Würenlingen, Aufgaben und Aufbau, 1973, S. 3.

[3] Wildi, Tobias: Der Traum vom eigenen Reaktor. Die schweizerische Atomtechnologieentwicklung 1945-1969, 2003, S. 58.

[4] Freuler, Kaspar: Atombombe Marke «Winkelried»?, NZZ, 12.08.1946.

[5] Die Förderung der Atomforschung durch den Bund, NZZ, 07.01.1947.

[6] Wildi (2003), S. 59, S. 62.

[7] Ebd., S. 45; EIR (1973), S. 3.

[8] EIR (1973), S. 26; Reaktor AG Würenlingen: Safeguard Evaluation of the Natural Uranium – Heavy Water Reactor DIORIT, 1958, S. 1; Wildi (2003), S. 69, S. 162f.

[9] Petitpierre, Max: Ansprache Einweihung Diorit, 26. 08.1960, ETH-Bibliothek Zürich, Hochschularchiv, ARK-NA-Zü 1.7.

[10] Wildi (2003), S. 76; EIR (1973), S. 10.

[11] Wildi (2003), S. 76, S. 147, S. 251–252.

[12] Nuklearforum Schweiz: Rückbau des Forschungsreaktors Diorit kurz vor dem Abschluss, 30.05.2003; ENSI: Aufsichtsbericht 2023, S. 73.

[13] EIR: Bedienungsanleitung und Instruktion des Reaktorsimulators, 1964, S. 2.

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