«Von der Quaibrücke aus entdeckt man über die Bäume der Anlagen hin ein lang sich streckendes Gebäude, das sich, dem Hügel der Enge vorgelagert, durch besonders edle Architektur auszeichnet. […] Eines schöneren und schöner gelegenen Geschäftsgebäudes kann sich keine der hiesigen größeren Gesellschaften rühmen […]. Das schöne Gebäude, das den Namen der Stadt trägt, ist für diese eine wahre Zierde.»[1] Mit dieser Eloge wird das neu errichtete Verwaltungsgebäude für die Allgemeine Unfall- und Haftpflichtversicherung-Aktiengesellschaft Zürich am Mythenquai in der Zürcher Chronik vom 27. April 1901 gewürdigt.
Verwaltungsgebäude für die Allgemeine Unfall- und Haftpflicht-Versicherung-Aktiengesellschaft Zürich, um 1905. Foto: Boller, Public Domain Mark, E-Pics, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich
Das schmucke Stammhaus war vom St. Galler Architekten Gottfried Julius Kunkler errichtet und von der Versicherungsgesellschaft im Oktober 1900 bezogen worden.[2] Noch heute beherbergt es den Hauptsitz der Zurich Insurance Group. Allerdings ist es mittlerweile eingebettet in ein ganzes Ensemble an Erweiterungsbauten, die zusammen den sogenannten Quai Zurich Campus bilden.
Quai Zurich Campus, historisches Verwaltungsgebäude mit modernen Erweiterungsbauten. Foto: Zurichmediarelations, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Ursprünglich waren lediglich das Erdgeschoss und erste Obergeschoss des Hauptgebäudes für die Geschäftsräume der Versicherung vorgesehen, während im 2. und 3. Stock repräsentative Wohnungen untergebracht und durch separate Zugänge erschlossen wurden. Von dem auf Strassenniveau gelegenen Haupteingang des Verwaltungsbaus führt eine Treppe ins Erdgeschoss, wo sich dem Besucher das eigentliche Herzstück des Gebäudes, das prächtige Vestibül mit dreiläufiger Treppe ins 1. Obergeschoss, eröffnet.
Vestibül des Verwaltungsbaus der Zürich-Versicherung mit Treppe, Zürich, Gottfried Julius Kunkler, 1899–1901. Foto: ETH Material Hub
Nachdem es einige Jahrzehnte im Dornröschenschlaf gelegen hatte und Kapitelle und Basen der Säulen sowie der floral-ornamentale Wandschmuck komplett übermalt worden waren, wurde es im Zuge einer sachkundigen, denkmalpflegerisch begleiteten Restaurierung in den 1990er-Jahren unter der Federführung von Trix und Robert Haussmann durch die in Jona ansässige Malerwerkstatt Fontana & Fontana in seinen ursprünglichen Zustand zurückgeführt. Erneut aufgefrischt im Zuge der Gesamtgestaltung des Quai Zurich Campus vor etwa 10 Jahren erstrahlt es heute in alter/neuer Pracht: Neben dem zentralen Buntglasfenster oberhalb des Treppenabsatzes sticht vor allem die reiche Natursteinausstattung ins Auge. Die Verwendung verschiedenfarbiger Steine gehörte zum Kanon der antiken Architektur, auf den auch die Architekten des Historismus zurückgriffen.[3] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsentierten die Nationen regelmässig die von ihnen gewonnenen Steinarten auf den Weltausstellungen. Mit dem fortschreitenden Ausbau des Eisenbahnnetzes zu jener Zeit wurde die Vermarktung von Naturstein über die jeweilige Ursprungsregion hinaus noch zusätzlich belebt.
Die Buntmarmorausstattung für die Zürich-Versicherung lieferte zum überwiegenden Teil die Firma Schmidt & Schmidtweber aus Dietikon, besser bekannt als ‘Die Marmori’, seinerzeit eines der grössten und bedeutendsten Marmor- & Granitwerke der Schweiz mit einem reichen, internationalen Angebot an Naturwerksteinen. Kunkler wählte für den Verwaltungsbau sowohl heimische Steinarten als auch solche aus dem benachbarten Ausland.
Factura von Schmid & Schmidweber, Marmor-, Granit- & Syenit-Industrie, an Herrn F. Kunkler, Architekt, Bauleitung des Neubaus der Zürich-Versicherung, 16.10.1899. Zürich Archiv A 105 201 597. Foto: ETH Material Hub
Die im Archiv der Versicherung erhaltenen Originalrechnungen belegen, dass es sich bei den Säulenpaaren im Erdgeschoss um zweierlei Varietäten des zur Gruppe der Carrara-Marmore gehörenden Bardiglio handelt, den bleu turquin und den relativ seltenen bleu fleuri.[4] Der graue Marmor entstand vor etwa 20 Mio. Jahren während der Bildung des Appeningebirges unter erhöhten Druck- und Temperaturbedingungen durch sogenannte Metamorphose aus einem Kalkstein.
Vestibül des Verwaltungsbaus der Zürich-Versicherung mit Bardiglio-Säulen (bleu turquin), Zürich, Gottfried Julius Kunkler, 1899–1901. Foto: ETH Material Hub
Vestibül des Verwaltungsbaus der Zürich-Versicherung, oberer Absatz der Eingangstreppe mit Bardiglio-Säule (bleu fleuri) und -pilaster (bleu turquin), Zürich, Gottfried Julius Kunkler, 1899–1901. Foto: ETH Material Hub
Die Säulen und Pilaster im 1. Stock wurden aus Unica gefertigt, einem tiefroten Lahnmarmor aus Villmar in Hessen. Bei letzterem handelt es sich um einen fossilreichen Kalkstein, den man im Natursteingewerbe aufgrund seiner Polierbarkeit als Marmor bezeichnete.
Zentraler Treppenaufgang im Verwaltungsbau der Zürich-Versicherung mit Unica-Säulen im 1. OG, Zürich, Gottfried Julius Kunkler, 1899–1901. Foto: ETH Material Hub
Während der Bardiglio-Marmor noch heute in den apuanischen Alpen bei Carrara abgebaut wird, hat man die Gewinnung des Unica-Kalksteins vor über 50 Jahren eingestellt. Im 19. Jahrhundert baute man die verschiedenen Lahnmarmor-Varietäten noch in mehr als 100 Steinbrüchen ab. Ausgerechnet der Unica-Steinbruch in Villmar, aus dem die Säulen für die Zürich-Versicherung stammen, wurde vor einigen Jahren freigelegt und für Besucher zugänglich gemacht.
Freigelegte und polierte Wand im Lahnmarmor-Steinbruch Unica in Villmar. Foto: Fritz Geller-Grimm, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Die 6 m hohe und 15 m breite Wand gehört zu den bedeutendsten Geotopen Deutschlands und bietet einen seltenen Einblick in ein Stromatoporen-Riff aus dem Mittleren Devon vor ca. 380 Mio. Jahren. Stromatoporen sind schwammartige Meerestiere, die in jener Zeit zu den wichtigsten Riffbildnern gehörten.[5]
Versteinerte Stromatopore von der Insel Saaremaa in Estland. Foto: Wilson 44691, CC0 1.0 Universal, via Wikimedia Commons
Ihre versteinerten Überreste kann man neben vielen anderen Fosslilien in den grossen, rundlichen, hellen Flecken an den Säulen und Pilastern des 1. Obergeschosses erkennen.
1. OG des Verwaltungsbaus der Zürich-Versicherung mit Unica-Säulen, Gottfried Julius Kunkler, 1899–1901. Foto: ETH Material Hub
Zusammengeschwemmter Riffschutt (vor allem kalkhaltige Fossilbruchstücke) verfestigte sich mit angeschwemmtem Kalkschlamm und anderen Sedimenten zu Kalkstein.[6] Zugleich liess eine aktive Vulkantätigkeit eisenhaltiges Wasser über den sich bildenden Kalkstein fliessen und in ihn eindringen, was zu einer Färbung des Gesteins in hell- und dunkelrote, braune und gelbe Töne führte.[7]
Unica und Bardiglio – in der Varietät bleu turquin – wurden auch für die Verkleidung der Pilaster eingesetzt und zum Teil an weniger prominenten Stellen kunstvoll durch Malerei imitiert. Vier solcher Bardiglio-Imitat-Pilaster rahmen das grosse, zentrale Buntglasfenster mit Löwe und Zürich-Wappen oberhalb des Treppenabsatzes, während vergleichbare Pilaster im Erdgeschoss aus echtem bleu turquin bestehen, ebenso wie die Umrahmung des direkt darunter liegenden Fensters.
Pilaster am zentralen Treppenaufgang im Verwaltungsbau der Zürich-Versicherung mit Bardiglio-Imitat, Gottfried Julius Kunkler, 1899–1901. Foto: ETH Material Hub
Auch die fossilreiche Struktur des Unica wurde imitiert, und zwar jeweils im rechten Winkel zu einem Pilaster aus echtem Stein an den vom repräsentativen Treppenhaus abgewandten Seiten im Flur des 1. Obergeschosses.
Pilaster im 1. OG des Verwaltungsbaus der Zürich-Versicherung, links echter Lahnmarmor der Varietät Unica, rechts derselbe Stein als Imitat, Gottfried Julius Kunkler, 1899–1901. Foto: ETH Material Hub
Die Nachahmung kostbarer Materialien durch Malerei oder andere Techniken ist ein Kunstgriff, der bereits in der Antike praktiziert wurde. Ging es zunächst vor allem um Ersatz und Einsparung teuren Materials, zielte die Imitation in späteren Epochen auch darauf, das Original noch zu übertreffen. Zum Teil hatte der Rückgriff auf Imitationsmalerei auch statische Gründe. Ob es um 1900 bei der Zürich-Versicherung schlicht darum ging, Kosten zu sparen, oder dem Architekten nur eine begrenzte Menge an Bardiglio und Unica zur Verfügung stand und er sich deshalb an den weniger prominenten Stellen mit Imitaten behalf – dies ist heute nicht mehr zu klären.[8] Doch in Anbetracht der Tatsache, dass Stein heute unter Zuhilfenahme von Maschinen abgebaut und bearbeitet werden kann, das Imitieren von Materialoberflächen aber weiterhin reine Handarbeit ist, stellt sich die Frage, was uns mehr zum Staunen bringt: die variantenreichen, durch geologische Prozesse über Jahrhunderte gebildeten, farbigen und strukturierten Natursteinoberflächen oder deren kunstvolle, durch Menschenhand geschaffene Imitate?
[1] Chronik der Stadt Zürich, Nr. 17, 27. April 1901, S. 130–131.
[2] Chronik der Stadt Zürich, Nr. 17, 27. April 1901, S. 130.
[3] Vgl. explora.ethz.ch/s/marmor-macht-architektur/ (Stand 11.02.2025).
[4] Zürich Archiv A 105 201 597. Neubau des Hauptsitzes 1898–1903, diverse Rechnungen über Hartsteinarbeiten von Schmid & Schmidweber, Marmor-, Granit- & Syenit-Industrie, Säge-, Schleif- und Drehwerke mit Wasserkraft in Dietikon.
[5] de.wikipedia.org/wiki/Stromatoporen#Riffe_im_Devon (Stand 11.02.2025).
[6] materialarchiv.ch/de/ma:material_1980 Stand 11.02.2025).
[7] www.lahn-marmor-museum.de/unica-bruch/ueber-den-unica-bruch.html (Stand 11.02.2025).
[8] Vielen Dank an Claudio Fontana von Fontana & Fontana in Rapperswil-Jona für das freundliche Gespräch und das Studium des Restaurierungsberichts seines Familienunternehmens aus den 1990er-Jahren.