«…dass noch andere grosse Hebel die Welt bewegen…»: Die Debatte um die «Hülfswissenschaften» am Polytechnikum im Jahr 1860

1855 nahm das eidgenössische Polytechnikum in Zürich seinen Lehrbetrieb auf. Dass es nicht wie ursprünglich angedacht zur Gründung sowohl eines Polytechnikums als auch einer eidgenössischen Universität kam, war den Kosten geschuldet. Schon fünf Jahre nach der Gründung entbrannte im Jahr 1860 im Schweizerischen Schulrat eine Debatte darüber, was der Stellenwert von geisteswissenschaftlichen Fächern im Lehrplan des Polytechnikums sein sollte.

Stadtansicht von Zürich mit dem Semper-Bau im Hintergrund, ca. 1864-1914. ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Ans_00389-A.

Auftakt zu der Debatte im Präsidialprotokoll vom 27. April 1860 war die Beschwerde aus der chemisch-technischen Abteilung über die Arbeitslast der neu eintretenden Studierenden. Das Thema war virulent, denn die Hochschule fürchtete um ihren guten Ruf. Es sei bereits so weit gekommen, dass angehenden Chemiestudierenden vom Polytechnikum abgeraten wurden, da das Studium zu streng sei. Zwar waren mehr Praktika eingeführt worden, jedoch nicht auf Kosten von Stunden aus der 6. Abteilung, die unter anderem Kurse auf dem Gebiet der Geschichte, der Sprachen und der Kunst unterrichtete.

Auszug aus den Anhängen der Schulratsprotokolle 1860, Stundenplan der Abteilung 6.

Die Ansprüche an das junge Polytechnikum waren vielgestaltig und konnten nur mit Mühe unter einen Hut gebracht werden. Als klar wurde, dass das Projekt einer eidgenössischen Universität nicht zustande kommen würde, bemühte sich die Schulleitung darum, die sprachliche Vielfalt des Landes auch im Unterrichtsprogramm des Polytechnikums widerzuspiegeln. Um den Föderalismus im jungen Bundesstaat zu verankern und alle Sprachregionen angemessen zu repräsentieren standen solche Bemühungen an oberster Stelle. Die Westschweiz hatte bereits vor der Gründung des Polytechnikums gegen den Gesetzesentwurf gestimmt, da sie eine Übermacht der Deutschweiz fürchtete. Die 1853 gegründete “Ecole spéciale de Lausanne” wurde dann erst 1969 als EPFL als Schwesterinstitution vom Bund übernommen. In der geisteswissenschaftlich-humanistischen Ausbildung sollten natürlich Kurse in allen Landessprachen, zu Literatur und Geschichte nicht fehlen, gleichzeitig brauchte die Schweiz aber dringend Ingenieure, Techniker und Naturwissenschaftler verschiedenster Ausrichtung, um das Land zu industrialisieren und auszubauen.

Eidgenössisches Polytechnikum, ca. 1864-1914. ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Ans_02467.

Interessenkonflikte waren in dieser Konstellation vorprogrammiert. Heutige Diskussionen über Lehrplaninhalte folgen den Konjunkturen unterschiedlicher Fächer. Die Popularität von Geistes- und Naturwissenschaften scheinen sich dabei in Wellen immer abzulösen, wobei alle Seiten stets darauf erpicht sind, möglichst viele Stunden für sich herauszuholen. Die Belastung für die Lehrkräfte und die Studierenden war bereits 1860 sehr hoch, deshalb schlug ein abtretender Professor für Geschichte eine Trennung des polytechnischen vom akademischen Unterricht vor. Für die Polytechniker würde “die historischen Vorlesungen sich auf kürzere Überblicke, auf hervorragende Epochen u auf die Entwicklung der hauptsächlichsten Culturmomente beschränken”. (S. 98, SR2:1860.) Vertiefte Studien wären dann in einem auf Freiwilligkeit beruhenden Modell nach Vorbild deutscher Hochschulen aufzubauen. Da die welsche Schweiz hingegen dezidiert gegen ein solches Unterrichtsmodell eingestellt war, entschied man sich dagegen und hielt am rigiden Lehrplan fest.

Blick auf die Bahnhofbrücke, das Central, mit dem Polytechnikum im Hintergrund, ca. 1864-1914. ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Ans_01176-A.

Allseits war gleichwohl unbestritten, dass ein Blick über den Tellerrand der exakten Wissenschaften in jedem Fall wünschenswert und notwendig war:

«Es thut den Schülern der verschiedenen technischen Richtungen in der That in hohem Grade wohl, wenn durch Anhörung solcher Kurse eine krasse Utilitätsrichtung gemildert wird u sie erkennen lernen, dass noch andere grosse Hebel die Welt bewegen, von denen in der Mechanik & Mathematik nicht gehandelt wird.» (SR2:1860, Präsidialprotokoll vom 27. April.)

Dem Anspruch einer umfassenden (Aus-)bildung trägt die ETH Zürich mit dem Betrieb des Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften (D-GESS) noch heute Rechnung.

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