Eine jüdische Grossfamilie auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus – eine Spurensicherung

Flucht in die Schweiz

«Im Zimmer war ein Soldat, der uns bewacht hat, und plötzlich kommt er und sagt, wir müssen zurück. Sie können sich vorstellen: Die Deutschen waren schon dort [an der Schweizer Grenze]. Am Schluss sagt er: ‘Ich bin jetzt fertig mit dem Dienst. Im Militär bin ich nur ein Soldat, aber zivil habe ich etwas mehr zu sagen. Sie werden bleiben können.’ Und wir haben gesagt, der spinnt.»1

Mit diesen Worten beschreibt Branka Wigdorovits ihre Ankunft in der Schweiz im September 1943. Branka war Teil einer Gruppe jüdischer Geflüchteter aus Jugoslawien. Sie überquerte die Schweizer Grenze zusammen mit ihren zwei Schwestern und ihren zwei Cousins, ihrer Mutter und Grossmutter sowie weiteren Verwandten und Bekannten.

Branka Wigdorovits (rechts) mit ihren Schwestern sowie ihren Cousins in Split. Privatarchiv von Vera Lachmanovich.

Branka (rechts) mit ihren Schwestern Vesna und Dara sowie ihren Cousins Dragan und Branko Najman in Split. Privatarchiv von Vera Lachmanovich.

Die Familie stammte aus Zagreb. Brankas Onkel Mavro Sessler, genannt «Onkel Boba», hatte in Wien auf einer Geschäftsreise den Anschluss Österreichs an das «Deutsche Reich» im Jahr 1938 miterlebt. Diese Erfahrung prägte ihn nachhaltig und führte dazu, dass er die politischen Ereignisse aufmerksam verfolgte.2 Auf seinen Rat hin verliessen Teile der Familie nach der Kapitulation Jugoslawiens im April 1941 Zagreb und liessen sich vorübergehend in Dubrovnik nieder. Und auf seinen Rat hin floh seine Schwägerin Stanka Hertmann-Frank mit ihren drei Töchtern Branka, Dara und Vesna zuerst nach Split, dann nach Triest und schliesslich nach Bergamo. Ihr Mann Saša und ihr Schwiegervater Geza waren kurz davor verhaftet und in das Konzentrationslager Gospić deportiert worden. Die Familie sollte sie nicht wiedersehen, beide wurden im Konzentrationslager Jasenovac ermordet.3

In Bergamo begann Mavro Sessler, die Flucht in die Schweiz vorzubereiten. Ein Visumsantrag blieb unbeantwortet. Der Familie blieb nur der illegale Grenzübertritt. Die politische Lage spitzte sich im September 1943 zu, als die Deutschen nach der Kapitulation Italiens Norditalien besetzten. Von Bergamo floh die Familie nach Chiavenna, wo sie Passeure an die Schweizer Grenze brachten.4

Die eingangs zitierte Aussage von Branka Wigdorovits lässt die Sorgen, die die Geflüchteten nach ihrer Ankunft in der Schweiz quälten, nur erahnen. Es muss eine unruhige und lange Nacht gewesen sein, bis die Familie am Morgen erfuhr, dass sie in der Schweiz bleiben darf – vorerst. Jahrzehnte später erst stellte sich heraus, dass der Soldat, dessen Vermittlung der überraschende Entscheid zu verdanken war, Veit Wyler gewesen sein muss.5 Dass Veit Wyler, ein jüdischer Anwalt, der sich für die Rettung von jüdischen Geflüchteten einsetzte, zufällig dort seinen Aktivdienst leistete, war ein grosses Glück.

Veit Wyler, 1.6.1945. AfZ NL Veit Wyler / 46.
Veit Wyler, 1.6.1945. AfZ NL Veit Wyler / 46.

 

Leben in der Schweiz

Nach einigen Tagen im Auffanglager in Samedan und einem kurzen Aufenthalt im Quarantänelager Girenbad im Zürcher Oberland liess sich die Familie zunächst in Wettingen und später in Baden nieder. Da «Onkel Boba» einen Teil seines Vermögens in die Schweiz retten konnte, war es der Familie möglich, das Lagersystem zu verlassen und privat unterzukommen.6

Doch blieb der Druck, weiterreisen zu müssen, im «Transitland» Schweiz bestehen. Erst ein Unglück führte dazu, dass die Familienmitglieder sich dauerhaft in der Schweiz niederlassen durften. Branka, die unterdessen ein Gymnasium besuchte, leistete im Juni 1945 einen obligatorischen Landdiensteinsatz auf einem Bauernhof in Dättwil. Sie unterstützte den Bauer bei der «Heuet». Am vorletzten Tag des Einsatzes wurde bei einem Unfall mit einem Traktor ihr Bein so schwer verletzt, dass ihr linker Unterschenkel amputiert werden musste. Später erzählt sie: «Es war geplant damals, nach Kriegsende, dass wir im August zurück [nach Jugoslawien] gehen [müssen], damit wir am 1. September in die Schule gehen können. Ich war so lange im Spital, es kam nicht mehr in Frage.»7

Ivan Gabor (Gabi) Wigdorovits, Vesna Frank, Branka Wigdorovits, Dana Sessler, Mavro «Onkel Boba» Sessler, San Remo, 1948. Privatarchiv von Vera Lachmanovich.
Ivan Gabor (Gabi) Wigdorovits, Vesna Frank, Branka Wigdorovits, Dana Sessler, Mavro «Onkel Boba» Sessler, San Remo, 1948. Privatarchiv von Vera Lachmanovich.

Branka begann nach bestandener Matura ein Medizinstudium an der Universität Zürich. 1947 lernte sie ihren späteren Mann kennen. Ivan Gabor Wigdorovits hatte mit seinen Eltern den Zweiten Weltkrieg in Budapest überlebt und kam 1947 in die Schweiz, unter anderem durch die Hilfe des Diplomaten Carl Lutz, der ihnen einen Schweizer Schutzbrief verschaffte.

Branka und Ivan heirateten 1949; 1952 kam Sohn Sacha und vier Jahre später Tochter Vera zur Welt. Ivan arbeitete bei der Firma Brown Boveri (später ABB) in Baden, während Branka zunächst in verschiedenen Krankenhäusern, später als promovierte Psychiaterin für den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons tätig war.

Sicherung von Nachlässen im Archiv für Zeitgeschichte

Die hier beschriebene Geschichte steht stellvertretend für viele andere. 80 Jahre nach der Ankunft der Familie in der Schweiz besucht Sacha Wigdorovits, der Sohn von Branka und Ivan Wigdorovits, das Archiv für Zeitgeschichte (AfZ). Vera Lachmanovich, die heute in Haifa lebt, und Sacha Wigdorovits aus Zürich haben die Unterlagen ihrer Eltern aufbewahrt. Ihr Nachlass enthält Dokumente zur Verfolgung, Flucht und Wiedergutmachung der Grossfamilie sowie Fotografien, die im AfZ zugänglich gemacht werden.

Das Archiv für Zeitgeschichte sammelt Unterlagen und Nachlässe von Holocaustüberlebenden in der Schweiz. Seit einigen Jahren gibt es Bemühungen, mit Interviews und Begegnungen die Erfahrungen von Holocaustüberlebenden festzuhalten. Genauso wichtig ist es, die Quellen und schriftlichen Erinnerungen zum Holocaust, zu den Fluchtgeschichten und zur Emigration in die Schweiz für die kommenden Generationen zu sichern. Die Erinnerung an den Holocaust und an die vielen unterschiedlichen Schicksale kann so ein Stück weit bewahrt werden.

Haben auch Sie Unterlagen zu einer spannenden Familiengeschichte im Bereich der Jüdischen Zeitgeschichte in der Schweiz? Oder kennen Sie Überlebende des Holocaust, deren Archiv gesichert werden soll? Wir freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme.

Kontakt:
VSJF-Memorial-Projekt im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich
Bettina Zangerl
zangerl@history.gess.ethz.ch

1. Interview mit Branka Wigdorovits von Dinah Ehrenfreund, Gioia Reifler und Flurina Felix, Zürich, 15.05.2019, in: AfZ TA Oral History-Seminar / 23, ab 29:10. Dass die Deutschen damals schon an der Schweizer Grenze standen, war eine Fehlinformation. Erst Mitte September 1943 trafen erste deutsche Truppen in Chiavenna ein. Vgl.: Carbone, Mirella und Jung, Joachim: Grenz-Erfahrungen. Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930-1948, Zürich 2024, S. 385. (Die Zitate wurden zu Gunsten der Lesbarkeit angepasst.)
2. Vgl.: Grenz-Erfahrungen, S. 378.
3. Vgl.: Survey and search of the List of individual victims of Jasenovac concentration camp: https://www.jusp-jasenovac.hr/Default.aspx?sid=7620
4. Vgl.: Grenz-Erfahrungen, S. 384-385.
5. Die Geschichte wird im Buch «Grenz-Erfahrungen» ausführlich beschrieben (S. 389-390).
6. Vgl.: Grenz-Erfahrungen, S. 390.
7. Interview mit Branka Wigdorovits, ab 35:20.

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