Stadtplanung im 19. Jahrhundert: ‘Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen’ von Camillo Sitte

Der Wiener Architekt Camillo Sitte (17.04.1843-16.11.1903) veröffentlichte 1889 das Werk Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen : ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, das zu einem Grundlagenwerk für Städtebau wurde. Er erlangte internationale Anerkennung und sein Werk wurde in weitere Sprachen übersetzt (Trüby 2024, S. 162).

Das Werk entstand zu einem Zeitpunkt, als in Wien und in zahlreichen anderen europäischen Städten die Bevölkerung stark anstieg und neuer Wohnraum benötigt wurde. In der Folge entstanden oft «überbelegte, schlecht belichtete und belüftete Mietskasernen», in denen die «Wohn- und Lebensqualität» in den Hintergrund rückten (Reicher, Söfker-Rieniets 2022, S. 20). Sitte kritisierte, dass «in unserem mathematischen Jahrhundert […] Stadterweiterungen und Städteanlagen beinahe [als] eine rein technische Angelegenheit» behandelt wurden (Sitte 1889, S. 2). Er verwies auf Aristoteles, nach dessen Grundsatz «eine Stadt so gebaut sein [sollte], um die Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen» (Sitte 1889, S. 2).

Sitte ging davon aus, dass in den Städten der Antike, des Mittelalters und der Renaissance «schöne Stadtplätze und ganze Anlagen auch ohne Parcellierungs-Plan» entstanden waren, weil sie nicht das Resultat eines einzelnen «Bauherrn» und seiner «Willkür» waren, sondern «unbewusst der künstlerischen Tradition ihrer Zeit [folgten], und diese war eine so sichere, dass zuletzt immer Alles zum Besten ausschlug» (Sitte 1889, S. 133). Weil nach Sitte diese Tradition nicht mehr gelebt wurde, war es seine Absicht, theoretische Prinzipien für den Städtebau herzuleiten und sie für den zeitgenössischen Städtebau nutzbar zu machen. Dazu analysierte er zahlreiche Städte aus der Antike, dem Mittelalter und der Renaissance (Sitte 1889, S. 135).

Das Forum Romanum in Rom
Abb. 1: Das Forum Romanum in Rom als Beispiel für Städtebau in der Antike (Sitte 1889, S. 5)

Er untersuchte die Beziehungen zwischen den Bauten, Monumenten und Plätzen der Städte, ihre Grösse und Form und ihre Wirkung auf die Menschen und das öffentliche Leben. Am Beispiel von einzelnen Plätzen der Stadt Wien zeigte er auf, wie anhand der aus dieser Untersuchung gewonnenen «künstlerischen Grundsätzen» bereits bestehende Stadtgebiete aufgewertet werden konnten (Sitte 1889, S. 158 ff.).

Camillo Sittes Projekt zur Verbesserung des Platzes um Die Votivkirche in Wien
Abb. 2: Camillo Sittes Projektvorschlag zur Aufwertung eines Platzes in Wien (Sitte 1889, S. 157)

Längst nicht alle Grundsätze, die Sitte in seinem Werk formulierte, wurden von der Leserschaft positiv aufgenommen. Dennoch wurde sein Werk in den letzten hundert Jahren in der Literatur über den Städtebau regelmässig zitiert und bereichert auch angesichts der Kritik, die an seinem Werk geäussert wurde, bis heute die Debatten um das Thema Städtebau (Trüby 2024, S. 166).

Literatur:

Reicher, C., Söfker-Rieniets, A.: Von der Vorantike bis zur Industrialisierung. In: Stadtbaustein Wohnen. Wiesbaden: Springer Vieweg, 2022, pp. 15-21. https://doi.org/10.1007/978-3-658-34071-1_2

Trüby, Stephan: “Streit um Sitte. Eine Diskursrekonstruktion aus aktuellem Anlass”. In: Zwischen Raum und Substanz. Berlin, Boston: Birkhäuser, 2024, pp. 162-179. https://doi.org/10.1515/9783035627404-015

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