Es ist ein verzweifelter Ton, den Mina Hofstetter in ihrem Brief vom 5. November 1952 an Arnold Heim anschlägt. Was war der Bäuerin widerfahren und warum wandte sie sich in der Hoffnung auf Verständnis ausgerechnet an den weitgereisten Erdölgeologen?
Mina Hofstetter (1883-1967) war eine Pionierin des biologischen Landbaus. Aufgrund gesundheitlicher Probleme hatte sie sich seit Anfang der 1920er Jahre mit den Methoden der Lebensreformbewegung auseinandergesetzt.
Die Reformbewegung hatte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Anfang genommen. Ihre Anhängerinnen und Anhänger wenden sich gegen die zunehmende Industrialisierung und Verstädterung, die sie als Quelle sozialer, gesundheitlicher und ökologischer Probleme betrachten. Einen Ausweg sehen sie in einer einfachen, naturnahen Lebensweise.
Mina Hofstetter wird Veganerin. Die fleischlose Ernährung scheint sich positiv auf ihre Gesundheit auszuwirken. Die Erfahrungen mit der veganen Kost veranlassten Mina Hofstetter 1927, ihren Hof auf viehlosen Anbau umzustellen. Die Biobäuerin vertiefte das Thema weiter, schrieb Artikel, veröffentlichte Bücher und bot Kurse an. Ihr Bekanntheitsgrad wuchs. Der bekannte Arzt und Lebensreformer Max Bircher-Benner wurde auf sie aufmerksam und ihr Hof wurde zu einem Treffpunkt für Anhänger und Anhängerinnen der Lebensreformbewegung.
Zum Zeitpunkt des Briefes hatte sie sich aber eigentlich schon aus dem Betrieb zurückgezogen, wie aus dem Brief an Arnold Heim (1882-1965) hervorgeht.
«Seit vielen Nächten muss ich schlaflos liegen, weil unser ganzes Lebenswerk unterzugehen droht. Der Sohn Werner, der die Gärtnerei und den Marktbetrieb hat, ist nicht mehr im Stande es weiterzuführen.»
Die erste Seite von Mina Hofstetters Brief an Arnold Heim vom 5.11.1952 mit Randnotiz in der Handschrift Arnold Heims (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 494a:40.4.12)
Schon als Junge hatte Werner Hofstetter seiner Mutter bei der Arbeit geholfen. Als er den Hof übernahm, setzte der Sohn die Arbeit im Sinne seiner Mutter fort. In den 1950er Jahren baute er den Betrieb weiter aus. Was Werner Hofstetter widerfahren war, und die Existenz des Hofes gefährdete, schildert Mina Hofstetter in ihrem Brief an Heim.
«Er hat vor vielen Jahren einmal durch einen Sturz von einem Baum sein Rückgrat verletzt u. hatte dann in grossen Abständen immer sehr schwere Anfälle von Rückenschmerzen, jetzt liegt er wieder schwer darnieder u. Hr. Schank u. die Ärztin die ihn besorgt sagen er müsse diese Arbeit aufgeben.
Ach, Herr Professor, Sie sind vielleicht der einzige Mensch, der weiss, was das bedeutet.
Wer soll u. kann u. wird diese Arbeit weiterführen?
Wir selbst d.h. die Familie meines Sohnes, wie soll sie weiter bestehen?
Wir haben gar keine Ersparnisse weil alles was wir sparten immer in den Betrieb ging, mein Mann u. ich können nichts mehr für den Betrieb tun, und haben selbst, weil zu alt, nicht mal eine Rente.
Ich frage mich gibt es da eine Lösung?
Das ärgste für uns alle, ist, dass die biolog. Gärtnerei niemand mehr weiterführen u. alle unsere seit Jahrzehnten treue Kundschaft enttäuscht wird.
Verzeihen Sie mir, aber ich musste jemand schreiben, der mich versteht.
Mit ergebensten Grüssen
Ihre
M. Hofstetter»
Dass Mina Hofstetter davon ausgeht, Arnold Heim verstehe sie und sei «vielleicht der einzige Mensch, der weiss, was das bedeutet», liegt daran, dass Arnold Heim, ein damals schweizweit bekannter Wissenschaftler, bekennender Lebensreformer war. Es ist anzunehmen, dass auch Arnold Heim zur Klientel der Hofstetters gehörte.
In seinem 1942 erschienenen Werk «Weltbild eines Naturforschers: Mein Bekenntnis» hatte der Geologe seine Überzeugungen dargelegt und öffentlich gemacht. Im Zuge seiner erdwissenschaftlichen Untersuchungen und ausgedehnten Reisen in alle Welt hatte Heim eine tiefe Ehrfurcht vor der Natur entwickelt. Er begriff sie als komplexes, dynamisches System. Den Menschen sah er nur als Teil dieses Systems und plädierte deshalb für einen respektvollen und nachhaltigen Umgang mit der Umwelt. Wie für Mina Hofstetter gehört auch für Arnold Heim der Vegetarismus zum respektvollen Umgang mit der Natur.
Aus einer Randnotiz auf dem Brief von Mina Hofstetter geht hervor, dass Arnold Heim den Brief beantwortet und gleichzeitig an einen Dr. Eberle geschrieben hat. Ob dieser Dr. Eberle das Rückenleiden von Werner Hofstetter erfolgreich behandelt konnte, ist nicht bekannt, aber das im Brief erwähnte Rückenleiden von Werner Hofstetter führt nicht, wie von Mina Hofstetter befürchtet, zur Aufgabe des Hofes. Vielmehr führte Werner Hofstetter den Betrieb weiter, bis er ihn 1988 im Alter von 76 Jahren an Judith Aebli und Daniel Liechti verkaufte.
Literatur und Links
Baumann, Max. Biologische Landwirtschaft vor hundert Jahren: die Pionierin Mina Hofstetter-Lehner. In: Brugger Neujahrsblätter, 130 (2020). S. 76-81.
Heim, Arnold. Weltbild eines Naturforschenden: Mein Bekenntnis. Bern, 1942.
Hocker, Carmen. Mina Hofstetter: Rebellische Grenzgängerin. In: Bioterra. Gärtnern, gestalten,geniessen; Jan. / Feb. 2022, S. 14-20.
Rindlisbacher, Stefan. Lebensreform in der Schweiz (1850-1950): Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen. Berlin 2021.
Radio SRF Zeitblende vom 23.03.2024: Mina Hofstetter – eine Schweizer Bio-Pionierin.