Seine erste Europareise nach dem Zweiten Weltkrieg führte Thomas Mann im Jahr 1947 aus dem amerikanischen Exil auch nach Zürich. Im Auditorium Maximum der Eidgenössischen Technischen Hochschule richtete er sich an die Studierenden der Stadt.
Eine ganze Woche dauerte die Schiffspassage mit der «Queen Elisabeth» von New York nach Europa. Am 16. Mai 1947 traf der Schriftsteller, der seit 1938 in Amerika lebte, in England ein, wo ihn sogleich Empfänge und Pressekonferenzen erwarteten. Thomas Mann gab Interviews und hielt Vorträge. Seine erste Europareise nach dem Ende des Krieges war eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges.
Von London aus flog der Nobelpreisträger am 24. Mai 1947 nach Zürich, wo er sich für fast einen ganzen Monat im Hotel Baur au Lac einquartierte. In dieses Hotel hatte ihn aus München bereits seine Hochzeitsreise 1905 geführt. Von 1933 bis 1938 lebte er in Küsnacht bei Zürich.
Die Reise im Jahr 1947 bedeutete für ihn also eine Rückkehr an seine erste Exilstation. Im Kongresshaus Zürich hielt er die Eröffnungsrede zum PEN-Kongress (4. Juni), im Schauspielhaus las er aus dem noch nicht erschienenen Roman «Doktor Faustus» (8. Juni), und anschliessend, am 10. Juni, folgte die Ansprache an die «Zürcher Studentenschaft», die er mit einer weiteren Lesung aus diesem neuen Roman verband.
Thomas Mann war eben 72 Jahre alt geworden und wusste, dass zwischen den ehrwürdigen Säulen des Auditorium Maximum vor allem jüngere Menschen sitzen würden. «Es war niemals leicht für einen Mann von fortgeschrittenen Jahren», so leitete er seinen Vortrag ein, «zur Jugend zu sprechen, sie anzusprechen in ihrem Geist und ihr Vertrauen zu gewinnen; der Gegensatz von Vätern und Söhnen ist uralt.» Doch in der heutigen «Krise der Zeit» sei der Gegensatz vielleicht ausgeglichener denn je: Die Jugend habe ebenso Schwierigkeiten, sich in der «verworrenen […] Welt» zu orientieren, wie die Älteren.
Blick in das historische Auditorium Maximum des Architekten Gustav Gull (um 1930). Der Saal wurde 1969 vollständig umgebaut. Von Thomas Manns Auftritt im Jahr 1947 ist kein Foto erhalten. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Unbekannt / Ans_03611)
Der «Geisteszustand der abendländischen Welt» sei «problematisch» geworden, der «Unterschied von Gut und Böse» «schwankend». Gross sei die «Sehnsucht der Welt nach einem neuen Glauben» – darin lag für Thomas Mann die gefährliche Attraktivität des Faschismus begründet, dessen Wiederkehr für ihn auch nach dem Ende des Krieges nicht ausgeschlossen war.
Eindringlich rief der Schriftsteller dazu auf, an der «Idee der Humanität» festzuhalten und diese Idee zu erneuern. Dafür seien nicht nur Konferenzbeschlüsse, sondern «eine Wandlung des geistigen Klimas» vonnöten, und die Literatur wie die Philosophie sollten zur «Schaffung dieser neuen Atmosphäre» beitragen.
Erfahren Sie mehr über Thomas Manns wechselreiche Beziehung zu Europa und sein politisches Engagement in der temporären Ausstellung «Thomas Mann. Achtung Europa!» im ETH-Hauptgebäude (01.03. bis 06.08.2023). Die Ausstellung wird gemeinsam mit der neuen Dauerausstellung am 28.02.2023, 18 Uhr, im Audi Max eröffnet.
Die «Ansprache an die Zürcher Studentenschaft» wurde zitiert nach der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns, Bd. 19.1: Essays VI, S. 264-268.