«Epos Schweizer Technik und Industrie» (Teil 4): Wilhelm Ludwig Lehmanns Zyklus im Zeitkontext

Arbeit und Freizeit im Schatten der Fabrik

Die sonntägliche Werkhalle des Von Roll-Werks in Gerlafingen schuf Lehmann in eigenem Auftrag, zweifellos als Nebenprodukt seines im Auftrag dieser Firma geschaffenen Gemäldes, das die gleiche Anlage in Betrieb zeigt. Es wäre ungewöhnlich gewesen, hätte die Firma dieses Gemälde gesponsort, war es doch sicher das Ziel, die Produktivität hervorzuheben und nicht die Ästhetik einer ruhenden Anlage. Und doch hat Lehmann mit diesem Gemälde eine besondere Lobpreisung schweizerischer Industrie geschaffen: wie Altäre stehen die Maschinen schwer im Raum. Die Glaswand erscheint ohne künstliche Überhöhung als Kirchenfenster: «Und Gott besah seine Schöpfung, und sah, dass sie gut war.»

Feierabend im Walzwerk Gerlafingen

Abb. 1 Wilhelm Ludwig Lehmann, Feierabend im Walzwerk Gerlafingen, 1928 (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Kunstinventar ETH Zürich / Frank Blaser, Ki-00116)

Punkto Sakralisierung der Arbeit ging der Kirchenmaler August Wanner gut ein Jahrzehnt später, an der «Landi 39», noch einen Schritt weiter: er schuf seine Darstellung von Strassenbauarbeitern als Kirchenfenster. Die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher, die Otto Baumbergers 45 Meter lange Geschichtsvision «Das Werden des Bundes»1 abmarschierten, standen zuletzt vor der Losung «In labore pax», Friede durch Arbeit, die deren quasireligiösen Status in der Epoche unterstreicht.

Wie stark Arbeit, Feierabend und Freizeit sowohl der Arbeiter als auch der Besitzenden mit der Fabrik verknüpft waren, stellte Hans Berger in seinem Triptychon für die Papierfabrik Biberist dar: die Arbeiter baden sonntags im Fabrikkanal, während die «Oberen» zu Pferd daran vorbeireiten. Die Lebensader beider ist jedoch die unendliche Papierbahn, welche die Fabrik werktags ausspuckt.

Fortschrittsglaube

Kraftwerk Wäggital, Staumauer im Schräh

Abb. 2 Wilhelm Ludwig Lehmann, Kraftwerk Wägital, Staumauer im Schräh, 1925 (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Kunstinventar ETH Zürich / Frank Blaser, Ki_ 00121)

N.O.K. Kraftwerk Eglisau

Abb. 3 Wilhelm Ludwig Lehmann, N.O.K. Kraftwerk Eglisau, Stauwehr, 1925 (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Kunstinventar ETH Zürich / Frank Blaser, Ki_00120)

Innerhalb des Zyklus steht kaum etwas so sehr für technischen Fortschritt wie die Staudammbilder Lehmanns. Kühl und sachlich führt er die Beherrschung der Naturkräfte vor. Der Dammbau zur Gewinnung von Elektrizität und der Fortschritt, den die Elektrizität versprach, war ein grosses Thema der Epoche, das an den beiden Weltausstellungen 1937 und 1939 ikonische Darstellung fand. Hierzu zählen die monumentale Kulisse des Pariser «Pavillon de la lumière» 1937 von Raoul Dufy wie auch Rockwell Kents «Man’s Liberation trough Electricity» im Pavillon der General Electrics in New York 1939.

Direkt vergleichbar mit Lehmanns Dammbaugemälden ist William Groppers «Construction of a Dam» von 1938, das dieser im Rahmen des Treasury Section of Fine Arts-Programms für das US-amerikanische Innenministerium in Washington DC schuf. Während Lehmann die Ingenieurleistung angesichts der Naturgewalten preist, hebt Gropper die gesellschaftliche Aufgabe hervor, die der Dammbau bedeutet: die vereinte Kraft der Arbeiter macht nicht nur den Bau des riesigen Damms möglich, sondern ist auch in der Lage, die sozialen Verhältnisse umzugestalten.

Schweizer Maler nahmen in der Nachkriegszeit das Thema auf und führten es weiter. Constant Könz hob 1955 in seinem Gemälde für eine Arbeiterkantine der Albignadamm-Baustelle im Bergell den zivilisatorischen und kulturellen Nutzen der Elektrizität hervor und verfolgte damit Dufys und Kent’s Erzählstrang weiter. In Turo Pedrettis monumentaler Darstellung in San Carlo bei Poschiavo (1961) geht es wie bei Lehmann um die Beherrschung der Naturgewalten durch die Kraftwerksbauten.

Monumentalkunst nach 1920

Die Realisation des Wandgemäldezyklus an der ETH fällt in die Zeit einer Neuausrichtung der öffentlichen Kunst in vielen europäischen Ländern (insbesondere in Deutschland2, etwas später in Italien3), in Mexiko (Bewegung des mexikanischen Muralismus, ab 1921)4 und in den USA (staatliche Förderungsprogramme ab 1934)5.

1922 wurde in Zürich ein erster Wettbewerb für notleidende Künstler ausgeschrieben, den Augusto Giacometti gewann.6 Dieser konnte 1923–26 das Eingangsgewölbe des Amtshauses I am Zürcher Bahnhofquai mit einer üppigen Girlandendekoration ausdekorieren, die dem Ort zum volkstümlichen Namen «Blüemlihalle» verhalf. Weihevoll üben Berufsleute wie Maurer, Winzerinnen oder ein Astronom an den Wänden ihre Tätigkeit aus und verweisen auf den rosenkreuzerischen beziehungsweise freimaurerischen Hintergrund des Künstlers.7 Während diese Ausmalung einen bemerkenswerten Kontrast zu Lehmanns kühl-sachlichen Darstellungen bildet, die sich ihrerseits diskret in die Architektur der ETH-Korridore einfügen, schliesst sich Giacomettis Werk viel stärker etwa an Erich Heckels «Lebensstufen»-Zyklus (1922–24) in Erfurt oder Diego Riveras «La creación» (1921–22) in Mexiko an.

Gesellschaft für chemische Industrie Basel

Abb. 4 Burkhard Mangold, Gesellschaft für chemische Industrie, Basel, 1925 / 1928–41 (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Kunstinventar ETH Zürich / Frank Blaser, Ki-00124)

Lehmanns Darstellungsweise ist aber in den 1920er-Jahren keineswegs «out». Nach dem Ersten Weltkrieg setzt eine «klassische Welle» in der Kunst ein, der sich auch ehemalige Avantgardisten wie der genannte Rivera oder (in Italien) Mario Sironi anschliessen. Die Strömung findet im Begriff des «retour à l’ordre» (basierend auf dem Buchtitel «Rappel à l’ordre» von Jean Cocteau von 1926) ihre Losung.8 Bei Lehmann, der seine in der Münchner Sezession erarbeitete Malweise weiterentwickelte, bedeutet die «Versachlichung» seiner Landschaften keine Abkehr von einer früheren Position. In Stil und Zweckbestimmung lässt sich seine Malerei mit den Landschaften vergleichen, die Ernst Hodel jun. und andere für die nach 1900 übliche monumentale Tourismuswerbung in Schweizer Bahnhöfen schufen. Auch Charles-Alexandre Girons ein wenig allegorisch angehauchtes Gemälde «Le berceau de la Confédération suisse» für den Nationalratssaal im Berner Bundeshaus (1901) ist Lehmanns Auffassung nicht fern.

Noch sachlicher packte Burkhard Mangold in seinem CIBA-Gemälde von 1925 (überarbeitet 1928–41) die Inszenierung von Landschaft und Industrie an. Der neusachlich-surrealistische Maler Niklaus Stoecklin führte schliesslich seine Wandgemälde für Hoffmann-La Roche (1936) und Sandoz (1940) in eine surreal übersteigerte Hypergegenständlichkeit.

Kunst für Schulen, Kunst für Korridore

Die öffentliche, baubezogene Kunst der 1920er-Jahre war selten Fassadenkunst. In den USA, dem Land mit den meisten modernen Wandgemälden überhaupt, gelangte sie kaum je auf die Fassade, in Mexiko mit seiner ideologisch untermauerten und staatlich geförderten «Bewegung» erst ab den 1940er-Jahren. Der Ort, wo ab 1920 um die Köpfe und Herzen des «Publikums» gerungen wurde, war der Korridor – vornehmlich von Schulen und Amtsgebäuden. Die Einbettung in eine historische oder historisierende Architektur war die Regel. Während das avantgardistische Experiment des Universitätsarchitekten Karl Moser 1914 einen nicht ganz unvorhersehbaren Skandal hervorbrachte9, erstaunt es doch, dass auch Lehmanns Gemälde bei den Nutzern der betreffenden Räume nicht vorbehaltlos aufgenommen wurden, wie der Kommentar Albert Weltis erahnen lässt: «In jenen Gängen zirkulieren Techniker und solche, die es werden wollen, Leute mit nüchternen und verdammt genauen Augen, aber wohl kaum sanfte Kunstgeniesser, deren Sinn auf Imponderabilien und Sentimentalismen gerichtet sind. Dass solche sich von Lehmanns Darstellungen nicht befriedigt erklären können, spricht für ihre Ehrlichkeit, wenn auch nicht für ihr sonstiges Kunstverständnis.»10

Anmerkungen

1 Alex Winiger, «Die wehrhafte Schweiz und die Friedensinsel Schweiz. Zwei Monumente, zwei Konzepte», in: Der Geschichtsfreund, Zug 2020, S. 121.

2 Friederike Schuler, Im Dienste der Gemeinschaft – Figurative Wandmalerei in der Weimarer Republik, Marburg 2017.

3 Zur Wandbildkunst im italienischen Faschismus siehe u.a.: Emily Braun (Hg.), Italian Art in the 20th Century. Painting and Sculpture 1900 – 1988, München / London 1989. – Vittorio Fagone, Giovanna Spinex, Tulliola Sparagni, Muri ai pittori. Pittura murale e decorazione in Italia 1930–1950, Mailand 1999. – Emily Braun, Mario Sironi and Italian Modernism. Art and Politics under Fascism, Cambridge 2000. – Sandra Pinto (Hg.), A History of Italian Art in the 20th Century, Mailand 2002.

4 Ida Rodríguez Prampolini (Hg.), Muralismo mexicano 1920—1940. Crónicas. Catálogo razonado, Mexiko D.F., 2012.

5 Zur Kunst des «New Deal» der Roosevelt-Ära siehe u.a.: William F. McDonald, Federal Relief Administration and the Arts, Columbus 1969. – Gerald E. Markowitz, Marlene Park, Democratic Vistas. Post Offices and Public Art in the New Deal, Philadelphia 1984. – June Hopkins, «The Road Not Taken: Harry Hopkins and New Deal Work Relief», Presidential Studies Quarterly 29, Heft 2 (Juni 1999), S. 306–316. – Andrew Hemingway, Artists on the Left. American Artists and the Communist Movement 1926–1956, Yale 2002. – Richard Nate, Amerikanische Träume. Die Kultur der Vereinigten Staaten in der Zeit des New Deal, Würzburg 2003. – Jody Patterson, Modernism for the masses. Painters, politics, and public murals in 1930s New York, New Haven 2020.

6 Caroline Kessler, Kunst und Bau Amtshaus I 1922–1926. Fresken im Amtshaus I («Blüemlihalle»). Ein Werk von Augusto Giacometti, Zürich 2016 [Infoblatt].

7 Erwin Poeschel, «Die Fresken von Augusto Giacometti im Amtshaus I in Zürich», in: Das Werk 11 (1926), S. 333–340. – Natascha Battus, Jenseits der Sprache. Freimaurerische Symbolik der Fresken von Augusto Giacometti im Amtshaus I, Zürich, Lizentiat Universität Zürich 1999. – Pietro Maggi, Dieter Nievergelt, Die Giacometti-Halle in Zürich, Bern 2000.

8 Musée d’Art et d’Industrie de Saint-Etienne (Hg.), Le retour à l’ordre dans les arts plastiques et l’architecture 1919–1925, Paris 1975.

9 Mattias Vogel, «Idylliker als Skandalkünstler. Die Wandbilder von Paul Bodmer und Hermann Huber für das neue Universitätsgebäude», in: Stanislaus von Moos, Sonja Hildebrand (Hg.), Kunst-Bau-Zeit 1914—2014. Das Zürcher Universitätsgebäude von Karl Moser, Zürich 2014, S. 270—293.

10 Albert Jakob Welti, Wilhelm Ludwig Lehmann 1861–1932, Zürich 1935, S. 27.

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