«nach Art eines Füllens» – Zu einem Objekt aus dem Nachlass Thomas Manns

Der Werkzusammenhang eines Autors umfasst mehr als nur Text. Wie das zu verstehen ist, zeigt das Beispiel einer Fohlen-Figurine, die neben dem schriftlichen Nachlass im Thomas-Mann-Archiv aufbewahrt wird.

«Wir sind ja genesene Leute», verkündet Hans Castorp im Zauberberg (1924) seinem Vetter Joachim Ziemßen beim Spaziergang, «abgefiebert und entgiftet […]. Warum sollten wir nicht ausschlagen wie die Füllen.»[1] Fohlen oder ‹Füllen› sind in gleich mehreren von Thomas Manns literarischen Texten Gegenstand von Vergleichen, vor allem in Bezug auf zwei ihrer Eigenschaften. Im Zauberberg ist es die Ausgelassenheit jugendlicher Stärke, die Castorp dem kräftigen Jungtier abschaut. Dass er sie sich und dem Vetter zu Beginn ihres Aufenthalts im Davoser Lungensanatorium zuzusprechen wagt, gerät von einem Ausdruck des Übermuts im Lauf der Romanhandlung zu einem der tragischen Ironie: Joachim wird seiner Tuberkuloseerkrankung erliegen, Hans Castorp immerhin sieben Jahre bei unproduktivem Nichtstun und zielloser Liebelei im Sanatorium gebannt bleiben, bevor er einem anonymen Tod auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs entgegengeht.

In Manns Werk wesentlich später, 1948 in der Phantasie über Goethe, darf ein anderer «Jüngling» dagegen «von langwierigem Siechtum» und vom «Rand des Grabes» genesen. Es ist kein Geringerer als «der zwanzig- bis dreiundzwanzigjährige Goethe in Straßburg», der zwar zunächst eine ordentliche Lebensweise vorgibt, «in Wirklichkeit aber garnichts tut als lieben, leiden, schwärmen, faulenzen […] – dies ständig hintenausschlagende Vollblut-Füllen und Genie im Puppenstande». Das «Füllen- und Spatzenstadium» bringt der junge Goethe, wie Mann ihn hier darstellt, anders als Castorp erfolgreich hinter sich, um reifend seine Begabung mit «in Geist aufflammende[r] Lebensgewalt» zu entfalten (GKFA 19.1: 308–310).

Die Denkfigur blieb in Manns Texten nicht Goethe allein vorbehalten, sondern liess sich auf weitere schaffenskräftige Autoren übertragen: Über den «Werkmensch[en]» George Bernard Shaw berichtete Mann in einem 1951 erstmals gedruckten Vortrag, er sei «noch als Greis in seinem Werk übermütig wie ein Fohlen» gewesen.[2]

Das Fohlen im Nachlass

In Manns Denken und Texte gelangt ist der Tiervergleich vermutlich aus seiner Bibliothek. Im ersten Band von Goethes Gesprächen, der in der Nachlassbibliothek steht und den Mann nach Ausweis zahlreicher Bleistiftspuren gründlich rezipierte, ist über Goethe zu lesen: «er hat heute wieder einmal den Teufel im Leibe; da ist er wie ein muthiges Füllen, das vorn und hinten ausschlägt, und man thut wohl, ihm nicht allzu nahe zu kommen.»

Nicht von ungefähr dürfte sich also die ca. 12 cm hohe Bronze-Figurine eines Fohlens in Thomas Manns Nachlass finden.

TMA_Fohlen

ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Stephan Bösch

Viel ist über das Fohlen nicht bekannt, das zu den Objekten aus Thomas Manns Arbeitsumgebung gehört. Immerhin wissen wir: Es handelt sich um einen Guss nach Renée Sintenis von Anfang der 1930er-Jahre.[3] Zur Zeit der Arbeit am Zauberberg, die 1924 abgeschlossen war, konnte also nicht diese konkrete Figur schon dem Schriftsteller vor Augen gestanden haben. Fotografisch verbürgt ist jedoch, dass sie in Manns letztem Arbeitszimmer an der alten Landstrasse 39 in Kilchberg einen Platz auf dem Bücherregal im Blickwinkel des Schreibtischs hatte.

ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_4255

Das Fohlen in Thomas Manns Arbeitszimmer

Es handelt sich hier indessen gerade nicht um einen der bekannten Gegenstände, die zur festen Einrichtung auf und um Manns Schreibtisch gehörten und von denen einige ihren Weg aus der realen Existenz ins literarische Werk fanden, wo sie nun als Objekte, als quasi sie selbst abgebildet sind.[4] Fohlen-Figurinen sucht man in Manns Texten vergeblich. Dass die kleine Tierfigur in Manns Arbeitsraum später einen so prominenten Platz behaupten konnte, mag dagegen damit zusammenhängen, dass die Vorstellungen, die sie verkörpert, im Ideenraum seiner Texte schon früh zum Inventar gehörten.

Das Fohlen im Werk

Im zitierten Fall ist die Tiermetapher insofern interessant, als er eine Entwicklung vom früheren ins spätere Werk abbildet. Diese zeigt sich unter anderem als Wandel im Verhältnis zu Goethe, der sich unter dem Konzept von Harold Blooms Anxiety of Influence subsumieren lässt: Erst im späteren Werk des literarisch und gesellschaftlich arrivierten Schriftstellers Thomas Mann werden Texte und Persona des Vorbilds Goethe verarbeitet, das zuvor allenfalls die Schiller-Gestalt in Schwere Stunde (1905) «mit einer sehnsüchtigen Feindschaft» (GKFA 2.1: 421) aus der Ferne liebte.[5] Erst die Goethe-Gestalt ist es dementsprechend auch, der die Parallele mit dem virilen Jungtier zukommt, Hans Castorps anmassender Selbstvergleich hingegen ist noch Ausdruck einer Hybris, auf die ein strafendes Schicksal unweigerlich folgt.

Neben dem krafttollen Überschwang der Jugend ist es eine zweite, ästhetisch-erotische Eigenschaft, die das Fohlen in Manns Texten codiert. Als «hochbeinig und nicht breit in den Hüften», auch ihre Brust explizit «nicht […] üppig entwickelt», beschreibt im Zauberberg die Erzählinstanz Hans Castorps verhängnisvolle Geliebte Clawdia Chauchat (GKFA 5.1: 324f.). Diese Knabenhaftigkeit der Statur markiert sie zusammen mit der «hochsitzenden Wangenknochenpartie» und den «zauberhaft geschnittenen Kirgisenaugen» (GKFA 5.1: 223) als Wiedergängerin von Castorps früher Liebe, dem schrägäugigen Schulkameraden Pribislav Hippe. Und sie wird nicht die letzte Begehrensträgerin mit diesen Körpermerkmalen bleiben. Rozsa im Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954), dessen Manuskript Mann nach einer ersten frühen Arbeitsphase 1913 zugunsten unter anderem des Zauberbergs weggelegt hatte, blickt aus Augen, die über «stark vortretende[n] Augenknochen» «schief» stehen. Nur «sparsam» zeichnen sich zudem unter ihrer Kleidung «die wenig ausgebildeten Formen des oberen Körpers» ab: «und wohl sah ich», erzählt Krull, «daß sie hochbeinig war nach Art eines Füllens, was immer meinem Geschmacke zusagte.» (GKFA 12.1: 133f.)

Inwieweit Thomas Manns Fohlen Vorstellungen von knabenhafter Schönheit und viriler Schaffenskraft in sich vereint, liesse sich in den Archivbeständen, namentlich auch der Nachlassbibliothek noch wesentlich kleinteiliger zusammensuchen. Deutlich wird aber bereits in diesem groben Umriss, dass die Figurine in einem Bedeutungszusammenhang steht, der über die Schriftlichkeit hinausgeht und aus der Textwelt in die Wirklichkeit hineinreicht. So verdienen neben den Werkmaterialien, Notiz- und Tagebüchern, Korrespondenzen, Manns Nachlassbibliothek und den Pressedokumentationen auch «die Dinge» (Tagebuch vom 7.10.1938) nicht nur als Kuriosa oder ihrer auratischen Aufladung wegen Aufmerksamkeit, wenn man sich wissenschaftlich für Manns Werke und Wirken interessiert.

 

Literatur

[1] Thomas Mann, Der Zauberberg, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.1, S. 356 (Kurznachweise nachfolgend GKFA 5.1: 356).

[2] Thomas Mann, «Bernard Shaw», in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 9, S. 794–803, hier S. 800.

[3] Renée Sintenis, hg. v. Hanna Kiel, Berlin: Rembrandt 1935, Abb. S. 83.

[4] Vgl. zu diesen z. B. Anne-Kathrin Reulecke, «Der Schreibtisch im Exil. Thomas Manns schwimmendes Arbeitszimmer», in: Die Werkstatt des Dichters, hg. v. Klaus Kastberger und Stefan Mauer, Berlin und Boston: de Gruyter 2017, S. 215–234, hier S. 219.

[5] Vgl. Yahya Elsaghe, «Einleitung», in: Thomas Mann: Goethe, hg. v. dems. und Hanspeter Affolter, Frankfurt am Main: Fischer 2019, S. 7–58.

Schreibe einen Kommentar