Während derzeit überall Hitzerekorde gebrochen werden, werfen wir zur Abkühlung einen Blick in den hohen Norden und gehen der Frage nach, wer im August 1912, also vor hundert Jahren, die lange Reise aus der Schweiz auf sich genommen hatte, um Alfred de Quervain in Grönland zu besuchen.
Ella de Quervain vor Zelt, Gunthis mit Grönländern, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv (Dia_297-1297)
«Die «Godthaab» glitt soeben um das Vorgebirge in die Tassiusakbucht herein. Schnell stellte ich die Fahne vor unserem Häuschen auf und rannte dann zum Ufer hinab, und machte mich, da die Boote bei Ebbe nicht so schnell flott zu machen waren, in meinem Kajak dem Schiff entgegen. Zwar meine Frau konnte nun in keinem Fall gekommen sein, aber die Post war schon die Eile wert. Doch ich hatte mich aufs schönste verrechnet.»
In diesem Abschnitt aus seinem Reisebericht «Quer durchs Grönlandeis», der in mehreren Teilen zum ersten Mal 1913 in der NZZ veröffentlicht wurde, beschreibt Alfred de Quervain die Ankunft des Schiffs «Godthaab» in einer Mischung aus Begeisterung und Zurückhaltung, so dass kaum klar wird, was oder wer jetzt eigentlich mit dem Schiff angekommen war. Erst im nächsten Abschnitt wird an einer einzigen Stelle klar, dass es sich tatsächlich um de Quervains Frau handelte. Das ist jedoch fast alles, was die Leserinnen und Leser erfahren. Sie wird im weiteren Verlauf nur noch einmal erwähnt, wenn es um den Komfort der Schiffskabine geht. In der eher wissenschaftlich ausgerichteten Publikation «Ergebnisse der schweizerischen Grönlandexpedition» merkt de Quervain ebenfalls lediglich an, dass seine Frau an Bord der Godthaab gewesen sei; und an späterer Stelle, dass seine Frau einen «grossen Anteil an der ganzen Ausrüstungsarbeit» hatte. Auffallend ist dabei, dass an keiner Stelle ihr Name genannt wird: Elisabeth/Ella de Quervain.
Abgesehen von de Quervains Berichten zeugt aber noch eine weitere Quelle von Ella de Quervains Aufenthalt in Grönland, nämlich eine Fotografie, die heute digitalisiert auf e-pics verfügbar ist. Das Bild zeigt Ella de Quervain vor einem Zelt mit weiteren Personen. Es ist Teil einer Serie von Bildern, die im Rahmen von de Quervains Grönlandexpedition im Jahr 1912 entstanden sind.
Aber wer war diese Frau, die die Reise aus der Schweiz nach Grönland angetreten hatten, um ihren expeditionsfreudigen Mann dort abzuholen? Viel lässt sich über Ella, bzw. Elisabeth, nicht herausfinden. Sie war das dritte von fünf Kindern des Pfarrers Edwin Nil und seiner zweiten Frau Louise Pauline Walther. Die Eltern hatten 1876 geheiratet, so dass Ella eventuell um das Jahr 1880 geboren wurde. 1899 finden wir in der Schweizerischen Lehrerinnenzeitung den Hinweis auf ein neues Mitglied namens Elisabeth Nil im Schweizerischen Lehrerinnen-Verein. Die Hochzeit von Ella und Alfred de Quervain fand 1911 statt, genau zwischen seinen beiden Grönlandreisen (1909 und 1912). Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Nach dem Tod Alfred de Quervains im Jahr 1927 engagiert sich Ella de Quervain im Zürcher Frauenverein für alkoholfreies Wirtschaften. Sie starb am 19. Mai 1947.
Das Foto von Elisabeth de Quervain vor dem Zelt führt zur Frage, was wohl die Frauen im Umfeld der anderen Polarforscher gemacht haben, während ihre Männer, Söhne oder Väter mit Expeditionen unterwegs waren. Ein anderer Schweizer in Grönland, Arnold Heim, traf beispielsweise 1909 auf der Rückfahrt an Bord des Schiffs «Hans Egede» den amerikanischen Polarforscher Frederick Cook, der zwischen 1908 und 1909 in der Arktis überwintert hatte. Als das Schiff die Shetland-Inseln erreicht, notiert Heim in seinem Reisetagebuch: «Der Kapitän hat Lerwick angelaufen, um Dr. Cook die Möglichkeit zu geben, Telegramme zu versenden. (Nachdem Cook ein Jahr länger nicht zurückgekehrt ist, muss seine Frau annehmen, dass er irgendwo umgekommen sei.)» (Arnold Heim, Reisetagebuch No. 1 zu Grönland ETHZ HS Hs 494:212).
Einen anderen Weg hatte Josephine Peary, die Frau von Cooks Konkurrenten Robert Peary, gewählt. Sie begleitete ihren Mann mehrfach nach Grönland, lebte mit den Inuit, gebar ihr erstes Kind in Grönland und musste sich damit auseinandersetzen, dass ihr Mann eine weitere Beziehung mit einer Inuit-Frau führte. Im Hinblick auf die öffentlichkeitswirksame Nachnutzung ihrer Erlebnisse, stand Josephine Peary den Männern in nichts nach. 1893 veröffentlichte sie My Arctic Journal», 1901 «The Snow Baby» und 1903 «Children of the Arctic».
Im Kontext neuerer Zugänge zur Geschichte des Polarforschung, beispielsweise aus postkolonialer Perspektive, ist in den vergangenen Jahren auch das Interesse an den Partnerinnen der «men on the spot» gestiegen und es bleibt zu hoffen, dass dies auch zu neuen Erkenntnissen über die Frauen der schweizerischen Polarforscher führen wird.
Weiterführende Literatur:
Alfred de Quervain: Quer durchs Grönlandeis: [die Expeditionen 1909 und 1912/13], hrsg. von Peter Haffner, Zürich 1998.
Lea Pfäffli: Arktisches Wissen. Schweizer Expeditionen und dänischer Kolonialhandel in Grönland (1908-1913), Frankfurt/New York 2021, https://doi.org/10.3929/ethz-b-000541547.
Lisa Bloom: Gender on Ice. American Ideologies of Polar Expeditions, Minneapolis 1993.
Kari Herbert: Polarfrauen: Mutige Gefährtinnen großer Entdecker, München 2012.