Was geht eigentlich im Kopf eines jungen Physikstudenten am Polytechnikum vor, der später Assistent wurde, danach fast 40 Jahre lang Professor und zwischen 1943 und 1947 Rektor der ETH war? Vom Zürcher Physiker Franz Tank wissen wir es. In einem dem Hochschularchiv überlieferten Tagebuch gibt Tank uns Einblick in seine Gedankenwelt zwischen 1908 und 1913.
Im Sommer 1908 legte Tank seine Maturitätsprüfung ab und lag vor der schweren Entscheidung, das Studienfach zu wählen. Die Überschrift des Eintrags vom 28. September 1908 heisst: «Wohin?» An diesem Scheideweg stellen sich Gymnasiastinnen und Gymnasiasten diese Frage noch heute. Womöglich ist diese Frage heutzutage noch einiges schwieriger zu beantworten als noch vor über 100 Jahren, denn die Fächerauswahl ist, auch an der ETH, bedeutend grösser geworden.
“Heute hat die Maturitätsprüfung ihr Ende genommen; das letzte Fach, in dem ich geprüft worden bin, war Physik. Weiss Gott, ich konnte nicht frei aufatmen, als alles vorüber war, ein drückendes Gefühl der Leere, ein Gefühl der Hülflosigkeit und Ratlosigkeit überkam mich. – Wohin nun?” (Hs 1428:1, S. 7)
Der erst 18-jährige Tank teilte seine Wünsche mit, erklärt die Widersprüche seiner Entscheidungen und die Angst vor der Zukunft. Als grosser Fan von Goethes Werk bewunderte er vor allem dessen «unablässige Arbeit an seiner eigenen Persönlichkeit» und «sein unbegrenztes Vertrauen zur Natur». Diese beiden Aspekte waren es auch, welche ihn in den ersten Semestern seines Studiums immer wieder beschäftigten. Unter modernem Gesichtspunkt könnte man ihm «Selbstoptimierungswahn» vorschreiben. Während sich heute viele Menschen den Diktaten einer vermeintlich gesunden Ernährung oder eines ebenso vermeintlich idealen Körpers verschreiben, sprach Tank von «Selbsterziehung». Mit ungeheuren Ansprüchen an sich selbst ärgerte er sich über jede Ablenkung:
“Wie kläglich, dass ich mich immer wieder in Kleinlichkeiten und Torheiten verfangen. Denn wie jedes Massenteilen im Universum jedes anderen anzieht und vor ihm angezogen wird so wirken tausend Einflüsse auf den Menschen und trägt der Mensch tausend latente Kräfte in sich, die ihn dahin und dorthin ziehen und begierig die Erfüllung ihrer inneren Bestimmung verlangen.” (Hs 1428:1, S. 10)
Seine Studienwahl fiel auf die Physik. Trotz seiner Begeisterung für Mathematik und physikalische Zusammenhänge schien Tank nicht von seiner Begabung für das Fach überzeugt. In seinen jungen Jahren schien der später beruflich sehr erfolgreiche Physiker enorme Ansprüche an seine Leistungen und Veranlagungen zu haben.
“Ich habe mich jetzt am Polytechnikum für das Studium eines Faches eingeschrieben, für das ich wohl grosses Interesse und Sympathie besitze, für das mir aber nicht die innerste Anlage gegeben ist; es gewährt mir keine innere Befriedigung.” (Hs 1428:1, S. 11)
Franz Tanks strebte nach dem Ideal des Universalgenies, wie es Goethe verkörperte. Doch die Zeit eines Leonardo da Vinci oder Alexander von Humboldt war zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst vorüber. Das lag nicht daran, dass die Menschen in der Zwischenzeit dümmer geworden wären, sondern daran, dass das gesammelte Wissen der Menschheit im 19. Jahrhundert unglaublich angewachsen war. Am Polytechnikum gab es in den 1850er-Jahren nur 6 Abteilungen und 25 feste Professuren. Bis 1909 waren es 65 Professuren, darüber hinaus waren unzählige Fächer auf dem Gebiet der Elektrotechnik, Chemie und Pharmazie dazugekommen. Auch Tank sah ein, dass er sich fachlich einschränken muss:
“Ich will nicht bei der Mathematik stehen bleiben: sie soll mir nur als beste Basis zu einer einheitlichen Auffassung der Naturwissenschaften unter dem Gesichtspunkte der Psychologie dienen, als Basis zur edelsten […] aller Wissenschaften, der Physik. Ich muss mich beschränken; ich muss einseitig, muss zum Fachsimpel werden.” (Hs 1478:1, S. 15)
Im März 1909 hatte Tank sein erstes Semester erfolgreich absolviert. Auf seinen Wanderungen rund um den Zürichberg liess er gerne das Geschehene Revue passieren und entwickelte seine Gedanken weiter. Während seiner Pausen schrieb er dann gerne seine Tagebucheinträge. Die Hinwendung zur Natur erinnert an romantische Verklärungen des 19. Jahrhunderts. Die Leserin gewinnt manchmal den Eindruck, der junge Tank verzweifle an den Gegensätzen seiner subjektiven Gefühlswelt und der strengen wissenschaftlichen Welt seines Physikstudiums.
Schon ein Semester hinter mir! Als ich im Herbst ins Polytechnikum eintrat, da beschloss ich, mutig mich ein Semester lang durchzukämpfen und dann in den Frühjahrsferien eine Rast auf meiner Wanderung zu machen, aufzuatmen, mich zu orientieren und wieder einen höhern allgemeinen Überblick zu gewinnen über die Dinge. […] Was ich diesen Winter an Wissen gelernt habe, war nicht viel, doch es genügt zur Not. Ideen habe ich wenige neue bekommen, und die zu durchdenken nicht die Kraft gehabt, dafür sind, glaube ich, viele Gedanken, die ich vom Gymnasium mitgenommen habe, reifer geworden und tiefer in mich gedrungen (ETH-BibliothekHs 1478:1, S. 25-26)
Das Abgangszeugnis von Franz Tank zeugt von seinem breiten Interesse jenseits seines Studienfaches. Er besuchte zahlreiche Freifächer wie Kurse über Goethes Werk, deutsche und englische Literatur, französische Romanciers aber auch Pflanzenkunde und Chemie.
Im Herbst 1909 kündigte Tank an, er hätte sein Tagebuch verbrennen wollen: Zu überheblich und arrogant sei er sich bei der Lektüre selbst vorgekommen! Glücklicherweise für uns Archivare und Historikerinnen entschied er sich dagegen. Dabei erkannte er den grössten Wert eines Tagebuchs, nämlich die Veränderung der eigenen Persönlichkeit im Laufe der Zeit nachvollziehen zu können.
“Ich habe dieses Tagebuch verbrennen wollen. Es schien mir nichts anderes als ein Zeichen eines eingebildeten und sich selbst ungeheuer überschätzenden Charakters. Dann bin ich doch davon abgekommen. Denn erstens ist es ein Andenken an meinen lieben Enkel Heinrich und dann schadet’s ja nichts, wenn man seine Gedanken und Gefühle ehrlich zu Papier bringt; im Gegenteil, es ist interessant zu sehen, wie man im Laufe der Zeit seine Ideen ändert oder ändern muss […]” (Hs 1478:1, S. 45)
Das Beispiel von Franz Tank soll verdeutlichen, dass Zweifel und persönliche Rückschläge in jungen Jahren keine erfolgreiche Karriere verunmöglichen müssen. 1912 schloss Tank als Fachlehrer für Physik und Mathematik ab, 1915 folgte die Promotion, 1918 die Habilitation, bis 1922 war er Assistent und ab 1922 bis 1960 ordentlicher Professor für Physik an der ETH. Sein Forschungsinteresse galt im Besonderen der Funktechnik, für die 1934 ein eigenes Institut an der ETH gegründet wurde. In Zusammenarbeit mit der Brown, Boveri & Cie. forschte er zu Hochfrequenztechnik, Telefonie und Elektronenröhren. Er starb 1981 im Alter von 91 Jahren in Zürich.
Im Hochschularchiv sind neben seiner Studentenmatrikel diverse Korrespondenzen, dieses Tagebuch und ein Reisetagebuch aus den Jahren 1920/21 während seines Studienaufenthalts in London vorhanden.