1’200’000 Seiten. Das ist der Umfang der im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich überlieferten privaten Bibliothek des Autors. Diese kolossale Zahl an Seiten haben die am Digitalisierungsprojekt «Thomas Mann Nachlassbibliothek» (2016-2019) beteiligten Mitarbeitenden durchgeblättert, um an die grundlegende Projektinformation zu gelangen: sind Stiftspuren und anderen Phänomene in den Büchern Thomas Manns vorhanden?
Über das Projekt wurde an anderer Stelle bereits berichtet. In diesem Beitrag soll ein Phänomen in den Blick genommen werden, das man in seiner Summe als «Einlagen» taxieren kann – wenn in gewissen Fällen auch nur mit einiger Phantasie. Anders als beispielsweise schriftliche Notizen, An- oder Unterstreichungen, die mit einem Stift mehr oder weniger dauerhaft auf das Papier aufgebracht wurden, sind Einlagen (mehrheitlich) beweglich und ihr Einlageort kann gewechselt haben (und kann weiter wechseln); auch droht leicht ihr Verlust, zumindest wenn es sich nicht um fixierte Lesebändchen handelt.
Lesebändchen in der Nachlassbibliothek
Das beim Durchblättern der Bibliothek dokumentierte Spektrum und die Menge an Einlagen ist erstaunlich. In 1173 Bänden (von 4287) fanden sich Streifen, Fetzen, Schnipsel von Papier oder Karton in allen Grössen und Formen, bedruckt, beschriftet oder leer, Visiten- oder Widmungskarten, Postkarten, ausgeschnittene Presseartikel, Verlagswerbung oder Notizkärtchen aus (ägyptischen) Zigarettenpackungen, weiter die erwähnten Lesebändchen in grosser Zahl, ebenso Eselsohren.
Im von Thomas Mann verfassten Band «Altes und Neues» sind insgesamt 11 Notizkärtchen aus «Laurens»-Zigarettenpackungen eingelegt. Sie scheinen vor allem der Markierung von Druckfehlern gedient zu haben.
Notizkärtchen in «Altes und Neues» (Signatur Thomas Mann 1430)
Beispiele von Einlagen: Presseartikel, Widmungskarte, Papierstreifen und Pflanzenblätter
Als «Einlagen» finden sich aber auch Pflanzenblätter, Holzsplitter, ein Strohhalm und ein Stück Faden, Haare, nicht wenige Insekten und… eine Nagelfeile.
Die Prüfung der Nachlassbibliothek auf Lesespuren hat im Band 1 des Werkes «Angelus Silesius sämtliche poetische Werke» (1924 in zweiter Auflage erschienen) ein kurioses Objekt zu Tage gefördert: Zwischen den Seiten 118 und 119 befand sich eine Nagelfeile der Marke «HERBA Solingen». Eine Anfrage bei der Firma Herba-Collection AG brachte die Erkenntnis, dass das von Herbert Bauer 1940 gegründete Unternehmen diesen Produkt-Typ seit Anfang der 1950er Jahre vertrieben hatte. Die Familie Mann remigrierte im Sommer 1952 aus den USA zurück in die Schweiz und scheint zu den frühen Käufern des HERBA-Produkts gehört zu haben. Da die Nachlassbibliothek mit der Gründung des Thomas-Mann-Archivs 1956 an die ETH Zürich überging, ist davon auszugehen, dass die Feile mit dem Buch aus dem Kilchberger Arbeitszimmer ins Thomas-Mann-Archiv kam und den persönlichen Objekten Thomas Manns zuzurechnen ist. Offensichtlich ist ihre Existenz bis zum Projekt zur Nachlassbibliothek 2016-2019 nicht bemerkt worden!
«Angelus Silesius sämtliche poetische Werke» mit Nagelfeile (Signatur Thomas Mann 23:1)
Zwar dokumentiert, aber nicht als Phänomen «Einlage» erfasst wurden (vermutet) zufällige Vorkommen von Verschmutzungen wie Kaffeeflecken oder Brandlöcher, Insekten oder Haare. Zu diesen ist auch das besondere Exemplar von Ernst Cassirers «Freiheit und Form» von 1922 zu zählen, das Thomas Manns Hund Niko während der amerikanischen Jahre mit Wonne zerkaute.
Buchdeckel von Ernst Cassirers «Freiheit und Form» mit Kau-Spuren von Hund Niko (Signatur Thomas Mann 3563)
Katia und Thomas Mann auf einem Spaziergang mit Hund Niko in Princeton, 1939. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_0530
Die im Projekt 2016-2019 entstandene Datenbank zu den Lesespuren in der Nachlassbibliothek und die digitalisierten Einlagen sind online zugänglich: https://nb-web.tma.ethz.ch/.
Woher weiß man, dass es der Hund Niko gewesen ist?
Das Buch trägt auf dem vorderen Buchdeckel innen den Vermerk dazu. Die erste Bibliothekarin des Thomas-Mann-Archivs muss diese Angabe direkt von der Familie erhalten haben.