Halloween steht vor der Tür. Das ursprünglich Irische Volksfest, das in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November gefeiert wird und in den letzten Jahrzehnten fast überall auf der Welt bekannt geworden ist. Es ist ein kulturelles Phänomen, dass bereits seit Wochen Kürbisse, Gespenster und Hexen in allen Läden zu sehen sind und der Anlass um sich heute die Frage zu stellen: Was hat die ETH Zürich mit Hexen zu tun?
In den Beständen des Hochschularchivs finden sich neben Verwaltungsunterlagen mehrheitlich private Nachlässe von ehemaligen Studierenden und Professoren der ETH. Die Themengebiete von deren wissenschaftlichen Forschung sind – definitiv studienbedingt – fast ausschliesslich im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich angesiedelt. Wer würde also erwarten, dass sich in den Archivbeständen auch ein Manuskript mit dem Titel «Über den Hexenglauben in seinem Zusammenhang mit der Naturreligion unserer Vorfahren» finden lässt?
Autor dieses Manuskripts ist der Mathematiker Wilhelm Fiedler. Es ist ein Teil des Werks, welches 1863 unter dem Titel «Mythologie und Naturanschauungen, Beiträge zur vergleichenden Mythenforschung und zur kulturellen Auffassung der Mythologie» unter Fiedlers Pseudonym H. F. Willer veröffentlicht wurde.
In Fiedlers Bibliographie sticht dieses Werk hervor, steht es doch alleine zwischen vielen mathematischen Schriften.
Dabei muss man nur einen kurzen Blick in Fiedlers Leben werfen um zu sehen, dass der Mathematiker vielseitig interessiert war und eine Studie zur Mythologie kaum erstaunlich ist. Fiedler war nicht nur ein begabter Zeichner und studierte Künstler wie Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer, sondern war auch als Präsident eines literarischen Vereins in Chemnitz tätig. Er pries schon lange vor ihrem Erfolg deutsche Literaten wie Fritz Reuter oder Joseph Victor von Scheffel. Von diesem Standpunkt aus ist es gut vorstellbar, dass Fiedler sich auch mit den Erzählungen, Mythen und Legenden in Deutschland auseinandersetzte – schliesslich erschien sein Werk zur Mythologie als er noch an der Gewerbeschule im Chemnitz tätig war, ein Jahr bevor er an die Technische Hochschule Prag berufen wurde.
Es befinden sich auch andere Manuskriptteile von Fiedler im Hochschularchiv, die sich ebenfalls mit Mythologie beschäftigten und ihren Eingang in die «Mythologie und Naturanschauung» gefunden haben. Passend zu Halloween sollen nun aber die Hexen im Vordergrund stehen.
Fiedler wählt den Hexenglauben bewusst aus, um exemplarisch daran aufzuzeigen, wie Mythen überliefert wurden:
Ein vortreffliches Beispiel für diese treue Ueberlieferung und für die Art und Weise der Umbildung des überlieferten Stoffes bietet der Hexenglauben unserer deutschen Vergangenheit und – wenigstens hier und da – Gegenwart; ein Beispiel zugleich, das zu zeigen leider nur zu sehr geeignet ist, welche schreckliche Macht über die Gemüther der Menschen ein Glaube erlangen kann, dem das Regulativ der verständigen Beurtheilung ganz entschwunden ist.
(Mythologie und Naturanschauung, S. 45)
Wenn man Fiedlers Ausführungen über Hexen und den Glauben an diese in Deutschland liest wird klar, dass er als deren Ursprung die altnordische Mythologie sieht. Er beginnt seine Erläuterung über diese Wesen damit, dass Hexen aus dem Glauben in Schwanenjungfrauen oder Walküren hervorgegangen seien. Deshalb sei auch den Hexen lange Zeit eine Beziehung zum Wetter zugeschrieben worden. Auch sieht Fiedler eine Verbindung zwischen der Herkunft der Hexen mit der Hexenprobe. Da Schwanenjungfrauen, wie der Name nicht anders vermuten lässt, schwimmen konnten, seien Frauen, die nicht ertranken als Hexen deklariert worden. Selbst die Legende, dass Hexen auf Besen, Ofengabeln oder Zauberstäben ritten liesse sich auf eine altnordische Sage zurückführen, in welcher ein junger Mann auf einem Zauberstab ritt.
Es ist sehr interessant zu sehen, wo Fiedler den Moment ausmacht, in dem ein Paradigmenwechsel stattfand. Die positiv konnotierten Schwanenjungfrauen wurden zu Hexen, die zum Beispiel als Wettermacher «in dem bösen menschenfeindlichen Sinne» (S. 46) wurden. Fiedler sieht hier klar den Auslöser im «Verschwinden des alten Glaubens» und dem damit verbundenen Vergessen der positiven Deutung.
Die restliche Bibliographie von Fiedler weist keinerlei Spuren von Mythen und Sagen auf. Auch wenn hier sein Manuskript in den Kontext des künstlerisch interessierten Fiedlers gestellt wurde, so ist die Verbindung zur Mathematik nicht weit entfernt. So schliesse ich mit den Worten, die Fritz Bützberger zur Emeritierung von Wilhelm Fiedler fand, die nicht nur auf die Mathematik zutreffen, sondern auch zur Welt der Mythologie:
Alle Gebilde und Produkte von Menschenhand verdanken ihre Entstehung der Phantasie, jener schöpferischen Urkraft, die zwar im wesentlichen angeboren sein muss, die aber durch zweckmässige Anleitung und intensive Übung mächtig gefördert werden kann.
(Fritz Bützberger: Prof. Dr. Wilhelm Fiedler. Zum Rücktritt von seinem Lehramt am eidgenössischen Polytechnikum am 1. Oktober 1907. Biogr Fiedler, Wilhelm, S. 3)
In diesem Sinne: Happy Halloween!
Weiterführende Literatur:
H. F. Willer [Pseud. für Wilhelm Fiedler]: Mythologie und Naturanschauung. Leipzig 1863.