«Nahrhafte Speise des Geistes» für das «geknechtete Volk»: Die Hochschullager der internierten Polen im Zweiten Weltkrieg

Zwischen dem 18. und dem 20. Juni 1940 passierten 43’000 Mann die schweizerische Westgrenze von Frankreich her. Neben Franzosen und Belgiern umfasste diese von den anrückenden Deutschen fliehende Truppe 13’000 polnische Soldaten der 2. Schützendivision, die auf Umwegen durch den Balkan und die Türkei nach Frankreich und dann in die Schweiz gelangte.

Die Truppenverbände liessen sich darauf in der Schweiz internieren. Das am 20. Juni 1940 gegründete Eidgenössisches Kommissariat für Internierung und Hospitalisierung (EKIH) koordinierte die Unterbringung, Beschäftigung und Verpflegung der Internierten in vielen kleineren Lagern im Oberaargau.

Plakat der Soldatenweihnacht, 1940
(ETH-Bibliothek, Hochschularchiv,
M 6285 (Hs): 4)

Bereits Anfang Juli 1940 erwuchs seitens des Divisionskommandos der Wunsch, für diejenigen Internierten, die infolge des Kriegsausbruchs ein Studium abbrechen mussten, spezielle Schullager zu schaffen. Ende Oktober 1940 fand die Eröffnung des Hochschullagers Burgdorf für Franzosen und Belgier statt. Diese wurden jedoch Anfang 1941 repatriiert und das Hochschullager Burgdorf wieder aufgelöst. Das Hochschul- und Gymnasiallager Winterthur für die internierten Polen nahm am 31. Oktober 1940 seinen Betrieb auf und währte bis ins Schuljahr 1945/46. Der damalige Rektor der ETH, Prof. Walter Saxer, hielt eine Eröffnungsrede, in welcher er die Studienprogramme vorstellte und die polnisch-schweizerischen Beziehungen mit einem Verweis auf Gabriel Narutowicz, Wasserbauingenieur und erster Präsident der Zweiten Polnischen Republik, hervorhob.


Polnischen Internierten wird eine Immatrikulation an der ETH erlaubt.
(ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR2:1941. 6. Sitzung des ETH-Rates vom 27.09.1941, Traktandum 93
)

In Winterthur wurden die Polen herzlich empfangen und für ihre Höflichkeit gelobt. Verköstigt wurden die Neuankömmlinge im Kirchengemeindehaus, logieren durften sie bei Privaten. Die «willkürliche und künstliche» (Hs 1333:17) militärische Organisation des Lagers zu Beginn wich bald einer sinnvolleren Gliederung nach Fachrichtung. Offizierskompagnie und Mannschaftskompagnie wurden in zehn Abteilungen überführt: Architektur, Bauingenieurwesen, Maschineningenieurwesen, Elektrotechnik, Chemie, Land- und Forstwirtschaft, Medizin, Veterinärmedizin, Pädagogik und Jura. Die Studienprogramme wichen in den ersten Semestern noch stark von denjenigen der ETH ab, da Obligatorien der polnischen Hochschulen berücksichtigt werden mussten. Während zu Beginn teils noch Dozenten der ETH für Vorlesungen nach Winterthur kamen, reisten ab dem Wintersemester 1942/43 die polnischen Studenten für ihre Kurse nach Zürich. Die Internierten besuchten die Veranstaltungen der Universität Zürich und ETH als sogenannte freie Hörer, wurden also nicht immatrikuliert und hatten keinen Anspruch auf ein Diplom. Erst 1945 wurde den Polen rückwirkend eine Immatrikulation zuerkannt und somit auch die Ausstellung eines Diploms ermöglicht. Viele dieser Diplome befinden sich noch heute in den Beständen des Hochschularchivs als “Unzustellbare Dokumente der internierten Polen des Hochschullagers Winterthur»

Diplom eines polnischen Internierten, der sein Diplom als Elektroingenieur 1943 erlangte. (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-2.2/6.02 Witold Tolloczko)

Das Leben im Hochschullager war natürlich ohne Freizeit- und Ablenkungsmöglichkeiten undenkbar. Im Hochschullager Freiburg organisierten die Studenten unter anderem eine sogenannte Selbsthilfe und eine Sektion für Kulturangelegenheiten. Die engagierten Studenten richteten eine Kantine ein, tätigten zusätzliche Broteinkäufe, organisierten Zuschüsse bei knapp bemessenen Taschengeldern und schickten Lebensmittelpakete an polnische Kriegsgefangene im Ausland. Die Kulturinteressierten organisierten Leseabende und Vorträge, ein akademischer Chor gab Konzerte in der ganzen Schweiz und brachte dadurch polnische Volkslieder einem breiten Schweizer Publikum nahe. Unbestritten schien die positive Auswirkung solcher Engagements auf die Moral der Lagerinsassen. Den Männerchor des Lagers in Herisau lobte Władysław Drobny, ehemaliger Rektor des Gymnasiallagers Wetzikon und Verfasser des Schlussberichtes über die Internierten-Schullager: «Ungemein rührig zeigte sich auch der Männerchor, der schöne Leistungen vollbrachte, und der oft genug die Stimmung im Lager nur durch Lieder aufrechtzuerhalten vermochte, weshalb so manche schwere Stunde erfolgreich überstanden werden konnte.» (Hs 1333:17)

Die Aufteilung der polnischen Studenten nach Fachrichtung. (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1333:17)

Auch wenn die Lager im unmittelbaren Rückblick als Erfolg für die Schweiz sowohl in Hinsicht der Förderung der Wissenschaften, als auch mit Blick auf die humanitäre Hilfe verbucht wurde, gestaltete sich die Organisation der Lager keineswegs immer einfach. Fluchtversuche waren an der Tagesordnung. Ebenso war der Postdienst der Interniertenlager mit der Flut der zur Spedition versandten Briefe und Pakete überfordert. Die Kriegssituation erforderte es, eine Postzensur einzurichten «um zu verhindern, dass durch die ausgehende Interniertenpost Mitteilungen ins Ausland gelangen, die unerwünscht waren. Als solche erwähne ich die Bezeichnung von Schweiz. Truppenstandorten […] hauptsächlich aber waren beleidigende Ausdrücke gegenüber fremden Staatsoberhäuptern, Regierungen und Behörden zu vermeiden.» (M 6285:1)Auch die Lagerleitungen erwiesen sich nicht immer als kompetente Anwärter für den Job. Im Gymnasiallager Wetzikon, die quasi-Nachwuchsinstitution für das Hochschullager Winterthur, sorgte eine Reihe von unliebsamen Lagerkommandanten für einen holprigen Start: «Zuerst war Oblt. Graf Lagerkommandant. Er hatte für die Bedürfnisse und Ziele des Lagers keinen Schimmer von Verständnis. Die ihm unterstellten Internierten mussten sich eine Behandlung gefallen lassen, wie sie für Insassen einer Strafkolonie kaum hätte schlimmer sein können. Jede geringste Abweichung wurde als Vorwand zur Bestrafung herbeigezerrt.» (Hs 1333:17)

Von den insgesamt 12’000 internierten Polen besuchten 3’000 eine weiterführende Schule an Mittel- oder Hochschulen. 25% der internierten Polen durchliefen also eine «geistige Wandlung» (Hs 1333:17), für welche die zahlreichen Internierten-Hochschullager massgeblich verantwortlich waren. Für die Schweiz hatte Drobny nichts als Dankbarkeit übrig: «Eine freie, demokratische und gastfreundliche Schweiz! Dies ist keine hochklingende Phrase, kein geflügeltes Wort schnöder Lobhudelei, dies ist ein Wort, das tiefste Wahrhaftigkeit in sich schliesst, das knospende Leben durchpulst.» (Hs 1333:17) In einer Zeit, als rund um die «umbrandete Insel» (Hs 1333:17) der Krieg tobte und europäische Hochschulen ihren Betrieb einstellen mussten, vermochte die Schweiz zumindest unmittelbar nach Kriegsende als Leuchtturm der Wissenschaft auch für gestrandete Intellektuelle aus dem Ausland zu brillieren.

Literatur:

Ferri, Marino: “Im Raume des Geistes ist keine Überfremdungsgefahr” Möglichkeiten akademischer Bildung für internierte Militärpersonen und Zivilflüchtlinge in der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus, Luzern 2017.

Sygnarski, Jacek: Helvétie, terre d’accueil…: espoir et vie quotidienne des internés polonais en Suisse 1940-1946 en images: Hoffnungen und tägliches Leben der polnischen Internierten in der Schweiz 1940-1946, in Bildern = Helvetien, Aufnahmeland…, Fribourg 2000.

Rucki, Jerzy: Die Schweiz im Licht – Die Schweiz im Schatten: Erinnerungen, Rück- und Ausblick eines polnischen Militärinternierten in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges, Kriens 1997.

Von Gunten, Fritz: Noch ist Polen nicht verloren…: polnische Internierte im Kanton Bern 1940-1945, in: Historischer Kalender, oder, Der hinkende Bot 290, S. 60-64.

 

2 Gedanken zu „«Nahrhafte Speise des Geistes» für das «geknechtete Volk»: Die Hochschullager der internierten Polen im Zweiten Weltkrieg“

  1. Danke für diesen interessanten Beitrag von Herrn Johannes Wahl, der mich, als Sohn eines dieser internierten Soldaten aus dem Hochschullager Winterthur ganz persönlich angesprochen hat.
    Zu diesem Thema möchte ich auch auf das Buch “Helvetien, Aufnahmeland…” (Les Editions Noir sur Blanc – Fondation Archivum Helveto-Polonicum, 2000) hiweisen.
    Beim Chronos wird demnächst eine von Marie-Isabelle Bill zusammengestellte Sammlung von Familiengeschichten der polnischen Internierten unter dem Titel «Interniert – Polnisch-schweizerische Familiengeschichten» herausgegeben.

    Andrzej Stefaniak
    andrzejstanstefaniak@yahoo.fr

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