Kaum war am 1. Oktober 1909 ein neues Reglement des Eidgenössischen Polytechnikums mit dem Recht zur Vergabe von Doktortiteln in Kraft getreten, wurde auch schon ein halbes Dutzend Anträge zur Erlangung der Doktorwürde eingereicht. Das letzte der sechs ersten Gesuche stellte eine Frau.
Hedwig Delpy an die Direktion der eidgenössischen polytechnischen Schule: Gesuch um Prüfungszulassung zur Erlangung der Würde eines Doktors der Naturwissenschaften, im Dezember 1909 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, EZ-REK1 Doktormatrikel Delpy, Hedwig).
Das war nicht unbedingt zu erwarten gewesen, entsprach doch die Ausbildung an einer technischen Lehranstalt, noch dazu mit höheren akademischen Weihen, so gar nicht den gängigen Vorstellungen von der weiblichen Rolle im bürgerlichen Alltag. Frauen erwarben ihren Doktor und andere Titel üblicherweise auf dem Standesamt durch Heirat, zwar nicht gesetzlich, aber gesellschaftlich. Wenigstens war die Doktorandin diplomierte Apothekerin, immerhin ein dem hausfraulichen Umsorgen von Familienmitgliedern verwandter Beruf. Soweit so beruhigend.
Doch der Auftakt des Lebenslaufs, vorschriftsgemäss abgedruckt am Ende der Doktorarbeit, liess und lässt noch heute aufhorchen: „Ich, Hedwig Delpy, geboren 1881 in Zürich […]“. Nichts da von schicklicher weiblicher Zurückhaltung und Bescheidenheit. Nur einer der fünf anderen Gesuchsteller wählte für den Anfang seines Curriculums dieselbe Satzkonstruktion, erwähnte aber sofort den Vater mit dessen Beruf. Bei Hedwig Delpy hingegen ist nichts über das familiäre Umfeld zu erfahren. Selbst ist die Frau.
Beim Blättern in alten Adressbüchern der Stadt Zürich zeigt sich, dass Mutter und Vater der eigenständigen Doktorandin als Musiklehrerin und Musiklehrer ihr Auskommen suchten. Zwei jüngere Brüder studierten nach der grossen Schwester ebenfalls am Polytechnikum, beide Chemie, wie die historischen Akten der Lehranstalt belegen.
Die gemäss Studienmatrikel am 24. Juli 1881 geborene Tochter der musikpädagogischen Eltern besuchte Schulen und Lehrerseminar in Zürich, machte die eidgenössische Matura in Basel, war Praktikantin und Gehilfin in verschiedenen Apotheken, studierte ab 1904 Pharmazie am Eidgenössischen Polytechnikum, bestand 1906 das pharmazeutische Fachexamen, übernahm ein Jahr lang die Verwaltung einer Apotheke in Baden im Kanton Aargau. Von Herbst 1907 bis Herbst 1909 arbeitete sie am Eidgenössischen Polytechnikum an ihrer Dissertation bei Carl Hartwich, Professor für Pharmazie. Zweiter Gutachter der Arbeit war Carl Schröter, Professor für spezielle Botanik.
„Gemütliche Erregung“
Die einstündige mündliche Doktorprüfung von Hedwig Delpy fand am 13. Dezember 1909 statt. Das war kein Freitag, volkstümlicher Unglückstag, sondern ein gewöhnlicher Montag. Dennoch versagten die Nerven der forschen Pharmazeutin. Im Protokollband der Konferenzsitzungen der Abteilung für Pharmazie ist zur Sitzung vom 13. Dezember 1909, 16.00 Uhr, unter „3. Promotion von Frl. H. Delpy“ festgehalten:
aus: „Eidgen. Polytechnicum, Protokoll der Pharm. Abthlg, Sitzung vom 13. Dezember 1909, 4 Uhr“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Hs 1075:1).
„Das mündliche Examen ist zwar weit hinter den gehegten Erwartungen zurückgeblieben. Auf Grund der eingereichten, fleissigen, von Prof. Hartwich u. Prof. Schröter begutachteten Arbeit: ‚Beiträge zur Kenntnis pharmazeutisch verwendeter Labiaten ‘, in Erwägung dass die Doktorandin sich während ihrer Studienzeit über ihre Fähigkeiten und Kenntnisse genügend ausgewiesen, und der Misserfolg im Examen daher offenbar auf deren ungewöhnliche gemütliche Erregung zurückzuführen war, stimmt die Konferenz einstimmig für die Promotion.“
Mit der Überschrift „Vorstandsprotokoll 22. Dez.1909“ wird weiter unten aus der Konferenz aller Abteilungsvorsteher vom 17. Dezember 1909 berichtet:
„3. Fräulein Hedwig Delpy wird rechtmässig zum Doktor der Naturwissenschaften promoviert.“
Hedwig Delpy hatte Glück. Die Promotionsordnung sah nämlich die Möglichkeit vor, das mündliche Doktorexamen zu wiederholen, wenn „die Promotionsarbeit angenommen, aber die mündliche Prüfung ungünstig ausgefallen“ war. Die Herren Konferenzmitglieder hatten also Milde walten lassen.
Dabei mochte mitgespielt haben, dass der Doktorvater der Prüfungskandidatin und gleichzeitiger Vorsteher der Abteilung für Pharmazie einen Ersatz für seinen bisherigen Assistenten brauchte, der eine andere Stelle in Aussicht hatte. Wer hätte sich besser für das Amt geeignet, wenn nicht die eigene Doktorandin mit ihrem respektablen Studienabschluss und den didaktischen Kenntnissen aus der früheren Ausbildung im Lehrerseminar? Eine Verlängerung des Promotionsverfahrens mit ungewissem Ausgang wäre daher ungelegen gekommen.
Auffallend ist jedenfalls, dass nur vier Tage nach der Bestätigung der Promotion durch die Konferenz der Abteilungsvorsteher, am 21. Dezember 1909, gleichzeitig sowohl die Kündigung des bisherigen Assistenten, als auch das Gesuch Hartwichs, Hedwig Delpy als dessen Nachfolgerin einzustellen, beim Schulratspräsidenten eingereicht wurden.
Ob Hedwig Delpy von den Plänen ihres Betreuers und den Kündigungsabsichten seines Assistenten schon vor der Prüfung wusste? Sie ging wohl ohnehin angespannt ans Examen im Bewusstsein, die erste Doktorandin der ETH zu sein. Sie durfte keinesfalls scheitern, nicht andere und eigene Erwartungen enttäuschen.
Falls dann noch Hartwichs Absichten durchsickerten oder Delpy vorab eingeweiht worden war, machte man ihr oder sie sich selber womöglich Verwürfe, dass sie sich anschickte, einen jungen Mann, einen möglichen künftigen Familienvater und Ernährer, um Stellung und Brot zu bringen. Sie, die gemäss gängigen gesellschaftlichen Leitbildern ja sowieso heiraten und dann als brave Hausfrau aus dem Berufsleben ausscheiden würde. Hatte der bisherige Assistent wirklich schon eine neue Stelle auf sicher? War er etwa von Hartwich dazu gedrängt worden, sich etwas anderes zu suchen? War vereinbart worden, dass er nur kündigen müsse, wenn Delpy erfolgreich war, aber bei deren Scheitern bleiben könne? Eine verzwickte Situation, falls die Dinge sich so verhielten, keinesfalls beruhigend bei bereits gereizten Nerven.
Hedwig Delpys Doktorarbeit als Fortsetzungsgeschichte in „Wissenschaftliche Mitteilungen“ der „Zeitschrift des Allgem. Österr. Apotheker-Vereines“, Wien 1910, 48. Jahrgang. Erste Folge in: Nr. 21, 21. Mai 1910.
Nach der trotzdem glimpflich überstandenen Prüfung durfte Delpy den Doktortitel noch nicht tragen. Reglementarisch musste dafür erst ihre Promotionsarbeit in gedruckter Form vorliegen und deren Empfang von der ETH bestätigt werden. Zunächst erschien die Arbeit aber in wöchentlichen Fortsetzungen vom 21. Mai bis 24. September 1910 in der Zeitschrift des Allgemeinen Österreichischen Apotheker-Vereines in Wien. Delpys Doktorvater Hartwich war Ehrenmitglied des Vereins. Vermutlich hatte er den Vorabdruck vermittelt. Im Spätherbst 1910 war es dann endlich soweit: Die gedruckten Pflichtexemplare der kompletten Arbeit waren abgeliefert, der Eingang bestätigt und die Doktorurkunde ausgehändigt worden.
Hedwig Delpy 1910 als Assistentin im Pharmazeutischen Labor des Eidgenössischen Polytechnikums, aus: Emma Steiger, Geschichte der Frauenarbeit in Zürich, Zürich 1964. Foto: Privatbesitz.
Schon ab dem Sommersemester 1910 erscheint in den Vorlesungsprogrammen des Polytechnikums noch akademisch unbetitelt „Frl. H. Delpy, Assistent des Pharmazeutisch-chemischen Labors“. Zusammen mit Professor Hartwich – oder nach offizieller Schreibweise „Hartwich mit Delpy“ – betreute sie hier zwölf Stunden die Woche ein „Pharmazeutisches Praktikum“, täglich die „Chemische Untersuchung von Nahrungs- und Genussmitteln“ und ebenfalls täglich „Pharmakognostische Übungen für Vorgerücktere“. Unter den Laborlehrlingen, die von ihr im Destillieren, Extrahieren, Messen und Mischen flüssiger und fester, gesunder und giftiger Stoffe unterwiesen wurden, begegnete sie einem Spielkameraden aus Kindertagen, ihrem künftigen Ehemann. Im Februar 1912 kündigte sie die Assistenz „wegen bevorstehender Verheiratung“.
Hedwig Delpy an den Schweizerischen Schulrat, 14. Februar 1912: Entlassungsgesuch als Assistentin (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, SR3 1912/Nr. 178).
Pillen und Plankton, Windeln und Weltkrieg
Zwei Nachrufe, die Jahrzehnte später dem Gatten gewidmet wurden, geben auch Hinweise auf Hedwig Delpys weiteren Lebensweg. Ihr Auserwählter war Fritz Nipkow, Sohn eines Apothekers in Stäfa, der auf Wunsch des Vaters sein Zahnarztstudium abbrach und zur Pharmazie wechselte zwecks späterer Übernahme des väterlichen Geschäfts. Daraus wurde nichts. Die jungen Eheleute eröffneten 1912 eine eigene Apotheke an der Winkelriedstrasse in Zürich.
Nipkow betrieb daneben oder vermutlich vor allem Gewässerkunde, erforschte pflanzliche und tierische Kleinlebewesen, wurde dafür nach Jahren mit dem doppelten Schläflipreis der Schweizerischen Gesellschaft der gesamten Naturwissenschaften ausgezeichnet und doktorierte 1927 nicht etwa mit einer pharmazeutischen, sondern mit einer hydrobiologischen Arbeit. Otto Jaag, ETH Professor für Hydrologie, schrieb dazu:
„Kaum hatte er das Staatsexamen hinter sich gebracht, begann der junge Apotheker als Privatgelehrter eine Forschungstätigkeit, die neben der anstrengenden Berufsarbeit jede freie Stunde seines Lebens ausfüllte und die bis zu seinem Hinschied im Alter von 77 Jahren nie erlahmte. […] Dass er sie in so reichlichem Masse pflegte, am Rande eines verantwortungsvollen Berufes, zeugt von einer erstaunlich intensiven und weisen Ausnützung der ihm verfügbaren Zeit und Arbeitskraft.“
Wessen Zeit und Arbeitskraft nützte Nipkow erstaunlich intensiv und weise aus? Nur die eigene? Aufschlussreich ist hier der zweite Nachruf aus der Feder des Zürcher Arztes und Naturforschers Gottfried Huber-Pestalozzi. Nipkow hatte nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs Militärdienst zu leisten:
„Und so ruhte denn bis zum Kriegsende die ganze Last des Geschäftes auf den Schultern der jungen Ehefrau. Als im November 1918 der Erste Weltkrieg zu Ende war, konnte Fritz Nipkow wieder in seine geordneten häuslichen Verhältnisse, in sein Geschäft und zu seiner Familie, die sich mittlerweile etwas vergrössert hatte, zurückkehren. Ausser diesen Aufgaben, nach denen er sich so gesehnt hatte, konnte und wollte er sich wieder der wissenschaftlichen Forschung widmen […]“
Geschäft, geordneter Haushalt, Kinderaufzucht: Das Werk von Hedwig Delpy, und zwar ohne die heute üblichen technischen und anderen Erleichterungen des privaten und beruflichen Alltags.
Schwierige Zeiten
Im Zürcher Adressbuch läuft die Winkelried Apotheke bis 1931 unter Delpys Namen. 1932 verschwindet die Pharmazeutin aus dem Verzeichnis der „Bürger und Niedergelassenen“. An ihrer Stelle erscheint neu ihr Mann in Verbindung mit der Apotheke. Im Verzeichnis der „Berufsarten und Geschäftszweige“ ist Delpy dagegen nach wie vor, und zwar alleine, als Geschäftsinhaberin genannt. Erst ab 1933 wird Nipkow ohne seine Frau in beiden Rubriken geführt.
Aus dem Adressbuch der Stadt Zürich 1925. Frau Dr. Nipkow-Delpy führt die Winkelried Apotheke. Ihr Gatte Fritz trägt irrtümlich ebenfalls schon einen Doktortitel. Die Zickzackblitze neben den Namen bedeuten Telefonanschluss, für Geschäfte eine zunehmend unentbehrlich werdende Einrichtung, zumal für eine Apotheke wegen Notfällen. Für viele Privathaushalte blieb Telefon dagegen noch lange ein Luxus.
Zog sich die tatkräftige Apothekerin damals wirklich aus dem Reich der Salben und Säfte, Tabletten und Tinkturen zurück? Wie hätte Nipkow dann weiter seiner gewässerkundlichen Privatgelehrsamkeit frönen können? Tatsächlich publizierte er nach seiner Dissertation nichts mehr bis anfangs der 1950er Jahre. Er hatte offenbar noch eine militärische Karriere verfolgt und war 1933 zum Hauptmann befördert worden. Gut möglich, dass seine Frau danach beruflich endlich kürzer treten wollte. Schliesslich hatte sie ja noch weiterhin den Haushalt der grossen Familie zu bewältigen.
Das Paar hatte eine Tochter und drei Söhne. Der älteste Sohn studierte wie die Eltern an der ETH Pharmazie, der mittlere Forstwirtschaft und der jüngste Rechtswissenschaft an der Universität Zürich. Ob die Tochter, dem Beispiel der Mutter folgend, ebenfalls eine höhere Ausbildung absolvierte, ist nicht bekannt.
Die berufliche Entlastung von Hedwig Delpy, wenn sie denn stattfand, dauerte nur ein paar Jahre. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs leistete Nipkow wieder Militärdienst von 1939-1942. Auch in den Studienunterlagen der Söhne sind bis Ende der 1940er Jahre zahlreiche Unterbrüche wegen Militärdienst vermerkt. Wer vertrat in Zeiten wie diesen die abwesenden Männer im Geschäft? Wahrscheinlich wieder Hedwig Delpy.
Der älteste Sohn ist als „stud.pharm.“ ab 1936 im Zürcher Adressbuch vermerkt. In der Ausgabe von 1940 ist er „cand.pharm.“, verheiratet, und wohnt nicht mehr an der elterlichen Adresse. Gemäss Huber-Pestalozzis Nachruf auf Nipkow arbeitete der Sohn „als diplomierter Apotheker“, demnach ab 1941, „an der Seite des Vaters“ im familieneigenen Unternehmen mit. Doch dann verunglückte er 1942 tödlich als Militärpilot bei einem Flugzeugabsturz. Der jüngste Sohn brach daraufhin sein Jus-Studium ab, begann an der ETH Pharmazie zu studieren und trat nach dem Staatsexamen 1949 in den elterlichen Betrieb ein. In der Zwischenzeit kümmerten sich wohl nicht nur der Vater, sondern beide trauernden Eltern um die Apotheke.
Fritz Nipkow, Ehemann von Hedwig Delpy. Foto: Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Jg. 108,1963 S. 470.
Ab 1951 publizierte Nipkow wieder regelmässig biologische Arbeiten. 1954 übernahm der jüngste Sohn die Apotheke. Nipkow erkrankte 1959 unheilbar, liess sich jedoch nicht von seinen Forschungen abhalten, hörte nur widerwillig auf Ärzte und Gattin, und erlag seinem Leiden 1963. Vier Jahre später folgte ihm Hedwig Delpy, ebenfalls nach schwerer Krankheit, am Karfreitag, 24. März 1967.
Literatur
Delpy, Hedwig: Beiträge zur Kenntnis pharmazeutisch verwendeter Labiaten, Separatdruck aus Zeitschrift des Allgem. Österr. Apotheker-Vereines, Diss. Naturwiss. ETH Zürich, 1909.
Huber-Pestalozzi, Gottfried: Fritz Nipkow (1886-1963), in: Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Jg. 108, 1963, S. 470-472.
Jaag, Otto: Fritz Nipkow zum Gedenken, in: Neue Zürcher Zeitung, Freitag, 3. Mai 1963, Morgenausgabe Blatt 2, Nr. 1773.