Jetzt wurde es eng für Rudi Borth. Eben erst hatte der 27- jährige Deutsche sein ETH-Diplom als Chemiker erhalten. Und nun erreichten ihn gleich zwei Hiobsbotschaften: Das Aufgebot zur Kriegsdienstleistung in Nazi-Deutschland und fast gleichzeitig die Nachricht, dass seiner Mutter als „Halbjüdin“ die Deportation von Köln nach Polen drohte. Die Fremdenpolizei hatte Borth nach dem Studienabschluss nur deshalb weiterhin in Zürich geduldet, weil er sein Ehrenwort gegeben hatte, sich einem Stellungsbefehl aus Deutschland nicht zu entziehen. Borth brach nun schweren Herzens dieses Ehrenwort und stellte im November 1941 als deutscher Militärdienstverweigerer offiziell den Antrag auf Asyl in der Schweiz. Für ein Regime, das seine Mutter deportieren wolle und ihn als „Vierteljuden“ diskriminiere, könne er unmöglich in den Krieg ziehen. Die Fremdenpolizei erklärte Borth daraufhin zum unerwünschten Ausländer und erwog ernsthaft seine Auslieferung an die Nazi-Behörden. Borth wurde 1942 verhaftet, in der Strafanstalt Witzwil interniert und musste seine Doktorarbeit abbrechen.
Rudi Borth als Chemie-Student im Labor, zwischen 1937 und 1941
(ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Port. 14352 Albumfoto Nr. 65)
Auch die mehrmaligen Interventionen des ETH-Rektors Walter Saxer (1896-1974) bei der Fremdenpolizei und sogar direkt bei Bundesrat Eduard von Steiger (1881-1962) waren erfolglos gewesen. Die Fremdenpolizei warf Borth vor, einen „unerfreulichen“ und „opportunistischen“ Charakter zu besitzen und seinem „Heimatstaat die Treue nicht zu wahren“. Rektor Saxer hingegen hatte persönlich vollstes Verständnis für Borths Militärdienstverweigerung: „Ich kann es mit der ganzen Auffassung über Humanismus nicht vereinbaren, dass auch durch die Schweiz als Staat solche individuellen Konflikte nicht mehr anerkannt werden sollen.“
Rudi Borth war einer von 443 Ausländern, die 1939 an der ETH studierten. Bis zum Kriegsende sollte die Zahl der ausländischen Studierenden auf 342 sinken, was einem Ausländeranteil von 11 % entsprach, ein historischer Tiefstand.
Es ist heute unmöglich abzuschätzen, wie viele Studierende mit jüdischem Hintergrund an der ETH studierten, da die ETH bei der Immatrikulation die Konfession oder „Rasse“ ihrer Studierenden nicht abfragte. In den Akten des Schulrates ist fallweise die Rede von „jüdischer Abstammung“ oder „jüdischer Religion“, doch eine systematische Erfassung blieb aus.
Der Vorgänger Saxers im Amt des ETH-Rektors, Michel Plancherel (1885-1967), schätzte 1933, dass unter den im Frühling neu immatrikulierten Studierenden sowie unter Studienbewerbern überdurchschnittlich viele jüdische Studierende seien. Doch verliessen vermutlich auch viele jüdische Studierende die ETH, um nach Amerika oder Palästina auszuwandern wie z.B. Hans Samelson, Siegfried Nussenbaum oder die Assistenten Georg Rosenkranz, Moses Goldberg und Leo Sternbach.
Bereits 1932 hatten (anonyme) Schweizer Studenten und Assistenten die ETH-Leitung bei der Fremdenpolizei denunziert und ihr die Bevorzugung von Ausländern bei der Vergabe von Assistentenstellen vorgeworfen. 1934 kanalisierte die Freisinnige Partei des Kantons Zürich ähnliche Vorwürfe an die Hochschulleitung. Im selben Jahr erschien in der rechtsextremen Tageszeitung „Die Front“ ein antisemitisch aufgeladener Artikel zur angeblichen „Verjudung“ der Assistenten an der ETH. Der Schulrat wies diese Kritik scharf zurück und rechnete vor, dass gerade einmal 17 von 113 Assistenten keine Schweizer Staatsbürger seien und der Anteil jüdischer Assistenten nochmals niedriger liege.
Ausschnitt aus dem Zeitungsartikel „Ist unsere Eidgen. Techn. Hochschule ebenfalls verjudet?“ aus der in Zürich erschienenen Zeitung „Die Front“, 17.8.1934, S. 2 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3 1934, Nr. 3425, Reg. 200)Bibliothek, Hochschularchiv, SR 3, 1934, Nr. 3425, Reg.
Der Präsident des Schweizerischen Schulrates, ETH-Professor Arthur Rohn (1878-1956) betonte in den 1930er Jahren wiederholt, er wolle eine “jüdische Überfremdung” der ETH unter allenUmständen vermeiden um der Entstehung einer “Judenfrage” entgegen zu wirken – eine Haltung, die als spezifisch schweizerische Form des Antisemitismus eingestuft werden kann. Rohn stellte sich aber zumindest nicht absolut gegen die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen, doch wollte er nur gerade „besonders tüchtige“ und „hervorragende“ Kandidaten „aus humanitären Gründen“ aufnehmen.
Im Frühling 1938 war Rohn zu Ohren gekommen, dass Schweizer Vertretungen in Berlin und Wien mehreren Studienbewerbern das Einreisevisum für die Schweiz verweigert hatten mit der Begründung, die ETH sei überfüllt. Rohn protestierte zwar gegen diese Einmischung des Chefs der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund (1888-1961), in den Zulassungsprozess der ETH, doch blieb dies folgenlos. Bei zwei jüdischen Bewerbern, die nachweislich in dieser Zeit vom Studium an der ETH abgewiesen worden waren, gibt es Hinweise darauf, dass sie von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Andere Mitglieder des Schulrates, allen voran der ehemalige Berner FDP-Regierungsrat Leo Merz (1869-1952), zeigten offen ihre Unterstützung für die Flüchtlinge und kritisierten die Schweizer Flüchtlingspolitik, die die Judenverfolgung unterstütze und die Verfolger schütze.
Der Schulrat half in den 1930er und 1940er Jahren zahlreichen ausländischen (auch jüdischen) Studierenden mit Stipendien oder zinslosen Darlehen. Ab 1943 sorgte Prof. C. G. Jung dafür, dass die private „Hilfsaktion für kriegsnotleidende Studenten“ regelmässig mit ETH-Geldern unterstützt wurde. Besonders aktiv engagierte sich Prof. Leopold Ruzicka (1887-1976) für Studierende und Assistierende, die in der Schweiz Zuflucht gesucht hatten.
Nicht nur der Schulrat, auch der VSETH (Verband der Studierenden) schwankte zwischen Fremdenfeindlichkeit und Hilfsbereitschaft. So verkaufte der VSETH zwar Briefmarken und Agenden zugunsten der Hilfsaktion, machte sich aber 1940 für die Einführung von höheren Studiengebühren für Ausländer stark und spendete 1944 den Gewinn aus dem Polyball explizit lieber den „eigenen Landsleuten“ als den ausländischen Flüchtlingen.
Der Schulrat lehnte den Antrag des VSETH auf Einführung höherer Studiengebühren für Ausländer strikt ab. Da Flüchtlinge in der Schweiz nicht arbeiten durften, hätte eine Gebührenerhöhung bei vielen automatisch zum Studienabbruch führen müssen. Der Schulrat betonte, dass ETH-Absolventen die beste Werbung für die Schweizer Exportwirtschaft im Ausland seien.
Ausschnitt aus dem Matura-Zeugnis des Staatsgymnasiums Lwow für Josef Anderman,
der 1939-1940 an der ETH studierte, Lwow 1938
(ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-REK 1/1/23548)
Und wie erging es Rudi Borth? Er verlor 1943 die deutsche Staatsbürgerschaft und blieb als Staatenloser in verschiedenen Lagern und Heimen in der Schweiz interniert. Mit Unterstützung von Rektor Saxer und seinem Doktorvater Ruzicka konnte er im Herbst 1944 endlich seine Forschungsarbeit im Labor für organische Chemie wieder aufnehmen. Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Dissertation 1947 machte er Karriere in der endokrinologischen Forschung an der Universitätsklinik in Genf und später in Kanada.
Quellen und Literatur
Die online zugänglichen Protokolle und Akten des Schweizerischen Schulrates im Hochschularchiv der ETH Zürich bieten Einblick in die Tätigkeit der Hochschulleitung. Die Matrikel der Studierenden und Doktorierenden sind nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist einsehbar.
Rudi Borth: [Kapitel ohne Titel]: In: Zur Geschichte der Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. 256 Biographien und Berichte, hrsg. v. Gerhard Bettendorf. Berlin 1995, S. 57-61.
David Gugerli: Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich 1855-2005. Zürich 2005.
Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 2001.
Congratulations, Marion! Once again a very personal, vivid account of the ETH’s involvement in the Zeitgeschehen. Very moving to read about the fate and actions of individual people, both students like Rudi Borth and also the ETH faculty members who supported him.
Danke für diesen sehr wichtigen und aktuellen Beitrag! Warum erscheint das nicht als Aufmacher im ETH Life?
Ein kurz gefasster und spannender Einblick. Ein déja vu wenn man daran denkt, wie heute in den Medien über den Anteil der ausländischen Studierenden geschrieben wird und wenn daraus resultierende Nachteile für Schweizer Studierende ins Feld geführt werden.