Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs war für Max Kleiber der Fall klar. Zwar hatte er erst 1913 sein Studium an der Landwirtschaftlichen Schule der ETH abgebrochen und war mit zwei Freunden nach Kanada ausgewandert, um dort eine eigene Farm aufzubauen. Jetzt aber leistete er der Mobilmachung Folge und kehrte wie viele andere Auslandschweizer in die Heimat zurück. Im Aktivdienst wurde er Artillerieleutnant und 1916 nahm er sein Studium an der ETH wieder auf.
Aufruf zur Teilnahme an einer Versammlung der Studierenden der ETH und der Universität Zürich im Juli 1917 zur Unterzeichnung einer Resolution gegen den Ausschluss Max Kleibers aus der ETH (Hochschularchiv der ETH Zürich, SR3 1917, 985/18).
Zum Bruch kam es ein Jahr später. 1917 verweigerte Leutnant Kleiber den weiteren Militärdienst. Sein tadelloser Leumund und die überzeugende Darlegung seiner inneren Beweggründe führte dazu, dass das Militärgericht über ihn ein verhältnismässiges mildes Urteil fällte: Kleiber wurde degradiert und zu einer viermonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Zudem wurden ihm für ein Jahr die Aktivbürgerrechte entzogen. Die Milde des Urteils wurde dadurch bekräftigt, dass Kleibers Antrag auf Verschiebung des Strafantritts bis nach dem Abschluss des Studiums statt gegeben wurde.
Dazu kam es aber vorerst nicht. Kleiber hatte seine Diplomarbeit bereits eingereicht, als ihm der Rektor der ETH mit Schreiben vom 25. Juni 1917 mitteilte, er werde „aus der Eidg. Technischen Hochschule ausgeschlossen”. Dieser Beschluss war auf Antrag der Landwirtschaftlichen Schule gefällt worden. Aus den Akten und Protokollen des Schweizerischen Schulrats, dem damaligen Leitungsgremium der ETH, geht hervor, wie intensiv um die Behandlung dieses Antrags und die Begründung des Ausschlusses gerungen wurde. Der Schulrat fragte – allerdings vergeblich – sogar beim Departement des Inneren um Entscheidungs- und Argumentationshilfe nach.
Einmal gefällt, wirkte diese Disziplinarverfügung als diskursiver Brandbeschleuniger. Der „Fall Kleiber“ wurde rasch über die ETH hinaus zum Thema. An verschiedenen Schweizer Hochschulen bildeten sich „Kleiber-Komitees“ und die kontroverse Diskussion um den Fall erfasste bald auch die Presse. Im Zentrum der Debatte standen nicht etwa Kleibers Dienstverweigerung oder seine Beweggründe. Vielmehr drehte sich die Diskussion um die Frage, ob der disziplinarische Ausschluss eines verurteilten Dienstverweigerers aus der Hochschule mit der akademischen Freiheit vereinbar war. Als Eidgenössische Technische Hochschule, so die eine Seite, sei die ETH in Kriegszeiten der Schweiz als Nation und der Verteidigung ihrer Freiheit verpflichtet. Sie dürfe keinen Dienstverweigerer in ihren Reihen dulden. Dadurch würde der Antimilitarismus gefördert und die vielen Studenten, die aufgrund des Aktivdienstes ihr Studium um weitere Semester unterbrechen mussten, würden benachteiligt. Auf der anderen Seite wurde geltend gemacht, dass die Hochschule dem Ideal einer supranationalen akademischen Freiheit verpflichtet sei, die sich auch im Krieg nicht von nationalen politischen Interessen einschränken lassen dürfe. Daher sei die Relegation Kleibers nicht gerechtfertigt. Unter dem Eindruck des Krieges machte der Fall Kleiber die fragile Nahtstelle zwischen den beiden Konzepten “Nation” und “akademische Freiheit” deutlich sichtbar.
Innerhalb der Studentenschaft verlief diese Debatte interessanterweise quer zur politischen Couleur. So unterstützten auch konservative Studentenkreise, etwa Mitglieder der „Zofingia“, die Protestbewegung zugunsten Kleibers. Manche Kommentatoren sahen gerade darin, dass der „Fall Kleiber“ klare und über die Generationen hinweg verlässliche politische Positionen ins Wanken brachte, die eigentliche Gefahr. So heisst es etwa im Freisinnigen Zuger Volksblatt vom 21. Juli 1917:
„es ist a u f l ö s e n d e r Geist in der Haltung der Studentenschaft eine Gesinnungsart, die vom chaotischen Vielerlei der Oberfläche genährt ist, in der alle Begriffe nebeneinander wogen und nach Laune und zeitweiligem Interesse gebraucht werden. Es ist aber weniger staatsrevolutionäre Gesinnung als vielmehr allgemeiner Zeitgeist der Zersetzung, der Haltlosigkeit.“
Und der inzwischen prominente Max Kleiber, um den sich die politisch aufgeladene Diskussion in immer weiteren Dimensionen drehte? Weder sein eigenes Wiedererwägungsgesuch noch die zahlreichen Proteste machten den Entscheid des Schweizerischen Schulrats rückgängig. Zumindest nicht bis nach dem Krieg. Im Frühjahr 1920 allerdings kehrte Kleiber für den Studienabschluss wieder an die ETH zurück. Nach seiner Promotion wurde er 1924 Assistent am Institut für Haustierernährung. Nachdem er sich 1928 habilitiert hatte, erhielt er 1932 einen Ruf an die University of California in Davis. Der Fachwelt bekannt wurde der 1976 verstorbene Biochemiker Max Kleiber nicht als Schweizer Kriegsdienstverweigerer und Auslöser einer Grundsatzdebatte über die akademische Freiheit, sondern aufgrund seiner Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Masse und Stoffwechsel von Tieren, dem so genannten Kleiber Gesetz.
Quellen im Hochschularchiv der ETH Zürich
Online Zugriff auf die Protokolle des Schweizerischen Schulrats (suchen Sie nach “Max Kleiber”)
Die ergänzenden Schulratsakten zum „Fall Kleiber“ (SR3 1917, 985/1-41) sind ebenso vorhanden wie Kleibers Matrikel (EZ-REK1/1/15594) und ein biografisches Dossier über ihn.
Literaturhinweis
Zur Rolle des Verbands der Studierenden an der ETH (VSETH) im Fall Kleiber siehe Lengwiler, Urs et al. Was Studenten bewegt – 150 Jahre Verband der Studierenden an der ETH. Baden: hier + jetzt, 2012, S. 61–65.