Wie sieht die Welt jenseits lichtmikroskopischer Grenzen aus? Wie sind Zellen in ihrem Innersten strukturiert? Solche Fragen stellt sich zu Beginn der Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts auch Kurt Mühlethaler, ein Student der Abteilung X für Naturwissenschaften an der ETH Zürich.
Nach dem Besuch einer Vorlesung beim Botaniker Albert Frey-Wyssling über die „Submikroskopische Morphologie von Pflanzenzellen“ entscheidet er sich, endgültig fasziniert vom inneren Aufbau der Zellen, auch seine Diplomarbeit bei diesem Professor zu verfassen.
Frey-Wyssling, ein Pionier der Erforschung submikroskopischer Feinstrukturen von Pflanzenzellen, schlägt ihm als Thema der Arbeit die Untersuchung von Zellulosestrukturen in Pflanzenfasern vor. Zugleich integriert er den jungen Mann im Sommersemester 1942 in eine Forschungsgruppe der Apparatebaufirma Trüb, Täuber und Co. um den temperamentvollen Tessiner Ingenieur Giovanni Induni. Dessen Gruppe tüftelt während des Zweiten Weltkrieges – weitgehend abgeschnitten von internationalen Entwicklungen der Elektronenmikroskopie – am Bau des ersten Schweizerischen Elektronenmikroskops. Mühlethaler wird so bereits als angehender Wissenschaftler in die Entwicklung eines Gerätes involviert, welches in der Lage sein wird, Objekte abzubilden, die sich aufgrund ihrer Kleinheit der Wellenlänge des sichtbaren Lichtes und dem Auflösungsvermögen lichtmikroskopischer Objektive entziehen. In der Folge arbeitet er sich als einer der ersten Schweizer in elektronenmikroskopische Präparationsmethoden ein und entwickelt sich anhand der Untersuchung von Diatomeen und Pflanzenschleimen zu einem Spezialisten für die noch junge Elektronenmikrographie.
Zugleich beginnt er sich als Biologe Gedanken zu machen über Interpretationsmöglichkeiten elektronenoptischer Bilder. Bis zum Abschluss seines Doktorats 1947 arbeitet Mühlethaler ausschliesslich mit dem Trüb-Täuber-Gerät, ahnt indes in langwierigen, mühseligen, gelegentlich verzweifelten Laborstunden, in denen ihm viele Bilder misslingen, dass sich dessen Abbildungsqualität aufgrund gewisser technischer Eigenheiten in Grenzen hält.
Brief von Kurt Mühlethaler an Albert Frey-Wyssling vom 1.2.1948 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 443: 1695)
Um sich weiter in die Materie vertiefen zu können und neue Arbeitsmethoden in der Herstellung elektronenmikroskopischer Bilder zu erlernen, schaut er sich, inzwischen Assistent am Pflanzenphysiologischen Institut der ETH sowie Leiter des neu geschaffenen Laboratorium für Elektronenmikroskopie der ETH, international nach Weiterbildungsmöglichkeiten um. Den Jahresbeginn 1948 verbringt er in einem Forschungslabor für Pflanzenphysiologie in einem Vorort der amerikanischen Kleinstadt Bethesda im Bundesstaat Maryland. Im „Laboratory of Physical Biology“ des amerikanischen „Public Health Service“, welches zu dieser Zeit geleitet wird von dem Kristallographen Ralph W.G. Wyckoff, will Mühlethaler sein Wissen um die Anfertigung wissenschaftlich aussagekräftiger, elektronenoptischer Bilder erweitern. Wyckoff, weltweit führend in der Anwendung der Elektronenmikroskopie, erklärt dem ETH-Wissenschaftler die Feinheiten und Tücken des Erstellens elektronenmikroskopischer Bilder und vermittelt ihm die zu dieser Zeit bahnbrechende Methode der „metallischen Beschattung“ elektronenmikroskopischer Präparate, ohne die seiner Ansicht nach nur wenige Aufnahmen gelingen. Erstmals arbeitet Mühlethaler mit einem amerikanischen RCA-Elektronenmikroskop und erkennt dessen technische Raffinessen.
In einem am 1. Februar 1948 verfassten Brief wendet sich Kurt Mühlethaler nach 10 Tagen Aufenthalt das erste Mal an Albert Frey-Wyssling und berichtet diesem von den neugewonnenen Erkenntnissen, die er in Amerika macht.
„In liebenswürdiger Weise zeigt er mir seine Präparationsmethoden bis in alle Einzelheiten und da es vielfach nur kleine Trick’s sind, die für ein gutes Gelingen eines Präparates ausschlaggebend sind, bin ich ihm für diese Hinweise sehr dankbar.“
Im internationalen Vergleich werden Mühlethaler die technischen Mängel des schweizerischen Elektronenmikroskops umso bewusster. Ausgehend von den Erfahrungen, die er mit dem amerikanischen Modell macht, lässt er an der Trüb-Täuber-Konstruktion kein gutes Haar mehr. Sorgfältig wägt er die Vorteile des amerikanischen Instrumentes gegenüber der schweizerischen Eigenproduktion ab:
„Was nun das RCA Mikroskop anbelangt, so habe ich bereits am zweiten Tag herausgefunden, dass es unvergleichlich besser arbeitet als das Trüb&Täuber (TT) Instrument. Ich möchte im folgenden nur zwei Bestandteile erwähnen, die von Herrn Induni am amerikanischen Instrument angefochten werden. Es sind die Glühkathode und die Objektivaperturblende. Alle Einwände die von Herrn Induni gegen die Glühkathode gemacht werden sind absolut falsch. Die Lebensdauer beträgt bei einer täglichen Arbeitszeit von acht Stunden durchschnittlich einen Monat. Dabei ist aber festzuhalten, dass sie während dieser Zeit ein absolut gleichmässiges, von Gasdruckschwankungen im Mikroskop ganz unabhängiges „Licht“ liefert. Ist der Glühfaden einmal durchgebrannt, so kann er in drei Minuten ersetzt werden. Die TT Kathode weist je nach Alter eine ganz verschiedene Helligkeit auf.“
Im Gegensatz zu den Entwicklern US-amerikanischer, holländischer und deutscher Elektronenmikroskope, setzen Giovanni Induni und die Firma Trüb, Täuber und Co. in ihrem Instrument auf den Einsatz einer kalten Kathode, arbeiten ausserdem mit elektrischen statt magnetischen Linsen und einer eigenen Trüb-Täuber-Molekularpumpe. Von dieser eingeschlagenen Richtung will Induni, den Einwänden seiner Fachkollegen trotzend, nicht mehr abweichen.
Elektronenmikroskopien, von Kurt Mühlethaler hergestellt mit dem Trüb-Täuber-Elektronenmikroskop, links: Quittenschleim, zu dick aufgetrocknet und unscharf (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Dia_249-EM-068), rechts: Quittenschleim, sehr verdünnt
In seiner Kritik geht Mühlethaler so weit, einigermassen scharfe Bilder der Trüb-Täuber-Konstruktion als blosse Zufallstreffer zu diskreditieren:
„Bei kleinsten Luftdruckschwankungen, wie sie beim Öffnen der Photokammer entstehen, steigt der Elektronenstrom rasch an und verschiebt sofort den Schärfebereich des Objektes. So wird beim TT Instrument jede gute Aufnahme nur durch einen Zufallstreffer ermöglicht, während beim RCA Mikroskop jederzeit Bilder mit absoluter Schärfe aufgenommen werden können.“
Die Aufnahmen des amerikanischen Instruments erscheinen ihm dagegen in ihrer Schärfe und Genauigkeit vergleichbar mit einer wissenschaftlichen Zeichnung:
„Die Bilder sind absolut scharf und kontrastreich wie eine Tuschezeichnung. Einmal eingestellt, sind sie noch nach einer Stunde in gleicher Schärfe und Helligkeit ohne geringste seitliche Veränderung da. Entgegen allen Theorien von Herrn Induni, können auch die dicksten Bakterien mit der gleichen absoluten Schärfe abgebildet werden.“
Elektronenmikroskopien von Kurt Mühlethaler hergestellt unter Anwendung der Methode der metallischen Beschattung, links: Pflanzenschleime. Traganth (Schleim) (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Dia_249-EM-153) und rechts: Bakterienzellulose. Zellulosegeflecht (B. xylinum). (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Dia_249-EM-165). Die Aufnahme rechts wurde im “DU” publiziert.
Nach der Rückkehr Kurt Mühlethalers in die Schweiz steigt neben dem wissenschaftlichen auch das öffentliche Interesse an den neuartigen elektronenoptischen Bildern. So erscheinen 1949 einige seiner Aufnahmen in der „kulturellen Monatsschrift“ DU. Sie begleiten einen von Ralph Wyckoff verfassten, populärwissenschaftlichen Artikel über Elektronenmikroskopie.
Währenddem es mit Kurt Mühlethalers wissenschaftlicher Karriere bei Anbruch der Fünfzigerjahre voran geht und sich die ETH ein Elektronenmikroskop der holländischen Firma Philips kauft, wird es um das Gerät von Giovanni Induni bald still. Albert Frey-Wyssling berichtet jedoch in seinen Lebenserinnerungen über das Ende des ersten Schweizerischen Elektronenmikroskops:
„Da einige wenige Trüb-Täuber-Mikroskope in den Handel gelangt waren und den Ruf eines Kuriosums erlangt hatten, erhielten wir wenige Monate nach der Überführung des Induni-Instrumentes ins Physikgebäude von einem Museum in den USA, das Erstkonstruktionen elektronischer Geräte sammelt, die Anfrage, ob wir ein ausrangiertes Schweizer Mikroskop gegen Entgelt vermitteln könnten. Leider war das unsrige nur wenige Tage zuvor „geschlachtet“ worden.“ (Frey-Wyssling, Autobiographische Erinnerungen, S.112)
Nachweise:
Burri, Monika: Forschung im Fokus. Wissenschaftsfotografien aus dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek. Herausgegeben von Michael Gasser und Nicole Graf, Scheidegger und Spiess, Zürich 2013 (Bilderwelten. Fotografien aus dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek, Band 3).
Frey-Wyssling, Albert: Lehre und Forschung. Autobiographische Erinnerungen, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 1984 (Grosse Naturforscher, Bd. 44).
Günter, John R.: History of electron microscopy in Switzerland, Birkhäuser, Basel 1990.
Westermann, Andrea: Das Elektronenmikroskop und sein Einbau in die ETH, in: ETHistory 1855-2005. Sightseeing durch 150 Jahre ETH Zürich, hier+jetzt Verlag, Baden 2005, S. 178-183.
Wyckoff, Ralph W.G.: Elektronenmikroskopie, in: Du: kulturelle Monatsschrift, Band 9 (1949), Heft 4, S. 48, Bilder: S.49-54. Abrufbar unter retroseals: http://dx.doi.org/10.5169/seals-290358