C’est plat. C‘est long. C’est gris. C’est moche. C’est le Poly – studierende Überlebenskünstler aus der Romandie

Flachgebaut, langgestreckt, grau und hässlich: Das Poly. Es gibt dort blonde, schmissverzierte Kugelköpfe; schwarze Borstenschöpfe; hochaufgeschossene Jammergestalten, die vornübergebeugt einhergehen; spindeldürre Kleine, die sich bolzgerade ins Kreuz werfen …

 

Vielleicht Willy Prêtre, der spätere Schriftsteller Willy-André Prestre (1895-1980). Namenloser Student aus dem Fotoalbum „1921 Bau-Ing. Abteilung der Eidg. Techn. Hochschule Zürich“ (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_16195-066-AL) 

Flachgebaut, langgestreckt, grau und hässlich: Das Poly. Es gibt dort blonde, schmissverzierte Kugelköpfe; schwarze Borstenschöpfe; hochaufgeschossene Jammergestalten, die vornübergebeugt einhergehen; spindeldürre Kleine, die sich bolzgerade ins Kreuz werfen; Brillen, viele, viele Brillen, hinter denen die unersättlichen Augen wohlgenährter Fresssäcke funkeln: Die intellektuelle Jugend. All das […] ist die Hoffnung des Landes. Schön ist es anzusehen, das Land.

So beginnt in der deutschsprachigen  Ausgabe die „Bohème escholière“, die romanhafte Erinnerung von Willy-André Prestre an seine Studienzeit. Die beiden Freunde Bill und Kiki aus der welschen Schweiz wollen Ingenieur werden. Ein ehrenhafter Beruf für richtige Männer. Leider ist das Ziel nur mit Disziplin zu erreichen. Also hören sie regelmässig Vorlesungen auf Deutsch in kaum verständlichem Wissenschaftsjargon mit langen, gewundenen Sätzen, den „Klapperschlangen“, und absolvieren Konstruktionsübungen im Zeichensaal nach Vorschrift. Dabei plagt sie Heim- und Fernweh, lieber würden sie Enten jagen in freier Natur. Die Wildenten, Umschreibung für uneingeschränktes Leben und unbegrenzte Phantasie, durchziehen als Leitmotiv das ganze Buch.

 

Ritt auf der Wildente: Die Phantasie im Zaum halten oder ihr die Zügel schiessen lassen? Illustration von Willy-André Prestre in Bohème escholière, Neuchâtel 1937, Seite 35.

Allerdings sind die existentiellen Grundbedürfnisse die eigentlichen Triebfedern des Handelns. Besonders der Hunger. Während wohlhabende Studenten sich für horrende 5 Franken in noblen Restaurants verköstigen, ernähren sich die zwei, stets knapp bei Kasse, in einem alkoholfreien Lokal des Zürcher Frauenvereins von Rösti mit Sauce für 25 Rappen oder Rösti ohne Sauce für 20 Rappen. Fehlt das Geld ganz, sind sie auf Proviantpakete der besorgten Mütter angewiesen und den regen Erfindungsgeist von Kiki. Sie vergreifen sich am Vorrat eines kranken Kollegen, fangen Tauben im Park, füllen die Leere des Magens mit Wasser, gaukeln sich mit Autosuggestion Sättigung vor. Zwar essen sie alkoholfrei, doch im geselligen Kreis mit Kameraden aus der Westschweiz schauen sie gerne tief ins Glas. Im Unterschied zu deutschsprachigen Studentenvereinen betrinken die Romands sich aber nicht mit Bier, sondern selbstverständlich mit Wein aus der Heimat und sogar Champagner.

Wie für unverheiratete Männer fern von zu Hause üblich, wohnen Bill und Kiki zur Untermiete bei Witwen, die mit der Miete ihr Auskommen bestreiten oder aufbessern. Zunächst nächtigen sie bei einer Schlummermutter mit heiratsfähigen Töchtern, die nach einer guten Partie unter den Mietern Ausschau halten. Wegen fremden Damenbesuchs erhalten die Freunde die Kündigung und kommen dank Hochstapelei kurzfristig bei der nächsten, sich vornehm gebenden Zimmerwirtin unter. Auch von dieser werden sie an die Luft gesetzt, als sie merkt, dass sie auf zwei sich als Aristokraten ausgebende arme Schlucker hereingefallen ist. Schliesslich richten sich die Ingenieurstudenten mit ausrangierten Möbeln verstorbener Verwandter im Estrich von Handwerksleuten ein, nachdem sie zuvor das dort hausende Gespenst, eine Ratte, heldenhaft erlegt haben. Zwei junge Französinnen, die sie wenig später vor den Nachstellungen durch Burschenschafter einer schlagenden Studentenverbindung retten, leisten ihnen im neuen Logis Gesellschaft. Den Kameraden von Bill und Kiki gefällt die unkonventionelle Bleibe, dennoch ist ihnen das schräge Abbild gutbürgerlicher Häuslichkeit nicht geheuer. Die Idylle, aus heutiger Sicht eine studentische Wohngemeinschaft avant la lettre, entspricht nicht der verbreiteten Norm. So kann man kein Diplom vorbereiten. Tatsächlich verschlafen Bill und Kiki im gemütlichen Heim die Vorlesungen, schreiben die Unterrichtsnotizen von ihren Kollegen ab oder lassen sie gar abschreiben von den Hausfreundinnen. Die Wildenten haben ihr Nest gefunden, wie der Autor schreibt.

Aber das Schlussexamen droht. Die zwei Bummelanten stürzen sich knapp davor auf den versäumten Lernstoff, überstehen – sie wissen nicht wie – die mündlichen Prüfungen. Dann folgen die Diplomarbeiten mit endlosen Berechnungen. Für die Anfertigung der zugehörigen Planzeichnungen bieten sie, wie es Brauch ist, ihren Freundeskreis auf. Nach vollendeter Arbeit gehen die beiden Prüflinge endlich wieder einmal aus. Doch als sie zurückkehren, sind die Diplomarbeiten verbrannt. Die Hausgenossinnen haben das Ende der gemeinsamen Idylle um ein halbes Jahr bis zum zweiten Diplomversuch hinausgeschoben.

Das Werk kam vor 75 Jahren, am 17. Dezember 1937, frisch aus der Druckerei. Gerade noch rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft der Buchhandlungen. Oder vielleicht doch nicht, denn der Urheberrechtsvermerk datiert von 1938.

 

Handschriftliche Anmeldung von Willy Prêtre zum Studium in der Abteilung für Bauingenieure an der ETH (ETH-Bibliothek, Archive, EZ-REK1/1/16016)  

Der Autor spielt augenzwinkernd mit Klischees und Kitsch. Was ist erfunden, was nicht? Willy-André Prestre schrieb sich als Willy Prêtre im Herbst 1915 an der Abteilung für Bauingenieure der ETH ein. Die Rubrik „Unterschrift des Vaters bzw. Vormundes“ auf dem Anmeldeformular wurde von seiner Mutter unterzeichnet. Nach dem ersten Semester war er für ein Jahr beurlaubt wegen Militärdienst, wie seiner Matrikel zu entnehmen ist. Trotz langer Studienabwesenheit wagte Prêtre im Herbst 1917 die erste Vordiplomprüfung und fiel durch. Im Konferenzprotokoll der Bauingenieurabteilung vom 18. Dezember 1917 vermerkte der Aktuar, „Prätre [durchgestrichen], Prêtre“ habe wegen ungenügender Leistungen bei der schon zum zweiten Mal abgelegten Prüfung „das Recht zur Zulassung zu weiteren Prüfungen verwirkt.“  Offensichtlich ein Irrtum. Prêtre versuchte es im nächsten Frühling noch einmal, diesmal erfolgreich. Für das folgende Studienjahr war er krankgeschrieben, möglicherweise wegen der damals in der Schweiz grassierenden Grippe. Immerhin blieb ihm genügend Energie zur Vorbereitung der 2. Vordiplomprüfung, die er im Frühjahr 1919 bestand.  Neben den Pflichtveranstaltungen belegte er in den Freifächern während der ganzen Studienzeit Vorlesungen zur aktuellen französischen, belgischen und englischen Literatur sowie zur neueren Geschichte Europas und des nahen und fernen Ostens. Am 26. März 1921 erhielt er ein Abgangs-Zeugnis mit der Bemerkung „Über das Verhalten liegen keine Klagen vor“. Allerlei in der Bohème escholière beschriebene Ungehörigkeiten waren somit nicht bis zu den ETH Autoritäten gedrungen oder entsprangen dichterischer Freiheit. Hingegen hält die Verfügung des Schulratspräsidenten vom 19. Juli 1921 fest, dass 18 Kandidaten, darunter Willy Prêtre, wegen ungenügender Prüfungsergebnisse das Diplom als Bauingenieur nicht erteilt wurde. Er versuchte es nochmals. Die Bohème escholière erzählt, dass für die schriftliche Diplomarbeit ein Bahnteilstück der Lötschberglinie zu konstruieren sei. Tatsächlich hatte die Abteilungskonferenz der Bauingenieure am 21. Juli 1921 für die nächste Abschlussarbeit die Aufgabe festgelegt: „Die Nordrampe der Lötschbergbahn als Linie gleichen Widerstandes“. Sein Diplom erhielt Prêtre dann endlich mit der respektablen Schlussnote 5.07 am 11. Januar 1922 .

Wie der weitere Lebensweg zeigt, war die polytechnische Zähmung aber nur teilweise gelungen, Prêtre blieb ein Wildenterich.

Im Bildarchiv der ETH-Bibliothek wird ein Erinnerungsalbum aufbewahrt mit Fotos von etwa der Hälfte der Studierenden, die 1921 den letzten Kurs der Bauingenieurabteilung besuchten. Darunter sind auch solche, die wie Prêtre erst im zweiten Anlauf das Diplom schafften. Ganz am Schluss sind zwei Bilder ohne Namensangaben eingeklebt. Das eine könnte verglichen mit dem Altersbildnis Prêtre zeigen. Wenn da nur nicht diese scharfe Linie quer über die Schläfe wäre: ein Schmiss. Ausgerechnet, wo doch Prestre in seiner Bohème escholière die seltsamen Duellgebräuche der schlagenden Studentenverbindungen kapitellang verspottet.

Nachweise:

Willy-André Prestre, Bohème escholière, Neuchâtel 1937

Willy-André Prestre, Scholarenblut. Erinnerungen eines Polytechnikers, übers. Duri Troesch, Bern 1944

Konferenzprotokolle der Abteilung für Bauingenieure, ETH-Bibliothek, Archive, Hs 1072:3  

3 Gedanken zu „C’est plat. C‘est long. C’est gris. C’est moche. C’est le Poly – studierende Überlebenskünstler aus der Romandie“

  1. Quelle histoire…, originale et pour moi très intéressante.
    J’ai lu quelques uns de ses livres dont “Bohême escholière”.
    Le premier jour de mes études à l’école d’ingénieurs (1964) à Lausanne, notre excellent professeur de mathématique (Gaille) nous a accueilli (sachant que j’étais parmi les étudiants) par un passage de ce livre pour nous dire que le métier d’ingénieur est un métier d’hommes (heureusement que les temps ont changés).
    Michel Hugo Prêtre, neveu de Willy Prêtre.

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