Mit grossem Lärm wurden kürzlich die stillen Örtchen im öffentlichen Bereich des ETH Hauptgebäudes renoviert. Jetzt werden einige der nur dem Personal zugänglichen internen Kloaken saniert. Wer die öffentlichen, jedoch diskret versteckten Versäuberungsplätze sucht und findet, stellt fest, dass die meisten Damentoiletten zwischen zwei Geschossen plaziert sind. Hier zeigt sich ein Stück architektonische Kulturgeschichte der ETH. Das 1864 eröffnete Hauptgebäude des Eidgenössischen Polytechnikums war nämlich ausschliesslich für Männer gebaut worden, mit Abtritten oder Aborten, wie die Bedürfniseinrichtungen damals hiessen, nur für Männer. Wo aber sollten weibliche Studierende ihre Notdurft verrichten? Ein Brief behob 1918 den Missstand.
Anna Schinz-Mousson an das Rektorat der eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Affoltern bei Zürich, 29. Mai 1918, Brief im historischen Schulratsarchiv der ETH (ETH-Bibliothek, Archive, SR3 1918, Nr. 574)
Frau Anna Schinz-Mousson schrieb am 29. Mai 1918 an den damaligen Rektor der ETH:
“Hochgeehrter Herr Rektor!
Da ich nicht weiss, an welche Instanz ich mein nachfolgendes Anliegen zu richten habe, erlaube ich mir, mich mit diesem Schreiben an Sie zu wenden, mit der höfl. Bitte, meine Einmischung entschuldigen und die Sache gütigst weiter leiten zu wollen.
In unserer Zeit, wo allen menschlichen Bedürfnissen überall in weitgehendem Masse Rechnung getragen wird, ist es befremdlich, dass in allen Gebäuden, die zu der eidg. Technischen Hochschule gehören, gar keine Toiletten mit Klosetten für Damen eingerichtet sind. Früher gab es allerdings keine weiblichen Studierenden an der eidg. Technischen Hochschule, aber in letzter Zeit ist ihre Zahl doch gestiegen, ja an der Höhern Töchterschule in Zürich sind die Maturandinnen zum Studium der Pharmazeutik ermutigt worden. Im Chemiegebäude scheint der Abwart von sich aus eine Einrichtung getroffen zu haben, aber die jungen Damen müssen sich stets den Schlüssel holen. Es ist aber ganz ausgeschlossen, dass anständige junge Damen die Gelegenheiten in den andern Gebäuden benützen, der Vorräume wegen. Für die weiblichen Studierenden herrscht deshalb ein gesundheitsschädlicher Zustand, unter dem sie leiden. Als Mutter und Freundin der Jungen Mädchen erlaube ich mir deshalb, Ihnen die Bitte zu unterbreiten, dass in allen Gebäuden, wo Mädchen verkehren, je eine Gelegenheit für Damen eingerichtet werde, vielleicht eine Toilette im Vorraum. Da die Jungen Damen sich natürlich stets scheuten, eine Reklamation anzubringen, habe ich mir erlaubt, für sie einzutreten und bin überzeugt, dass die leitenden Herren gewiss sofort bereit sein werden, Wandel zu schaffen, und wäre es vorerst auch nur ein Provisorium, sobald sie nur erst einmal von dem Misstand in Kenntnis gesetzt worden sind.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ergebenst
Frau Anna Schinz-Mousson”
Wie Frau Schinz mit den Worten „anständige junge Damen“ andeutet, riskierten die Studentinnen beim Betreten einer Herrentoilette ihren unbescholtenen Ruf, setzten sie sich in den beanstandeten Vorräumen möglichen Belästigungen aus. Ein halbes Jahrhundert blieb ihnen als Alternative nur das Unterdrücken ihrer Körpervorgänge, gesundheitsschädlich wie Frau Schinz moniert, oder die Erleichterung irgendwo unter freiem Himmel, nach Amtsantritt des erwähnten verständnisvollen Abwarts stand wenigstens noch die Flucht ins Chemiegebäude offen.
Die Briefschreiberin war nicht irgendwer, sondern Angehörige zweier einflussreicher Familien Zürichs, Gattin eines Titularprofessors für Philosophie der benachbarten Universität. Was dem Ruf höherer Töchter schadete, konnte dem Ruf der ETH nicht förderlich sein. Wie sich an den Handnotizen auf dem Brief ablesen lässt, reichte der Rektor das Schreiben sofort an den Schulratspräsidenten weiter. Dessen Sekretär spedierte es eilends „mit der Bitte um Vernehmlassung“ an Architekturprofessor Gustav Gull.
Gull war seit geraumer Zeit mit der Erweiterung des Hauptgebäudes beschäftigt. Den phallokratischen Techniktempel gedachte er mit einer Kuppel zu überwölben, altes Sinnbild des Universums, im Zusammenhang mit einer Hochschule Sinnbild grenzenloser Gelehrsamkeit, uneingeschränkter Forschungsmöglichkeit, freien Forschungsdrangs. Frau Schinz holte den entrückten Architekten unversehens aus der erhabenen Sphäre in die Niederungen leiblicher Grundbedürfnisse herunter. Ihr Anliegen war eine weitere unangenehme Störung in der an Unwägbarkeiten reichen Umbauphase. Zwar hatte der berühmte Kollege Gottfried Semper, dessen Vorzeigebau Gull gerade umgestaltete, sich seinerzeit auch schon eher profanen Bauaufgaben unterzogen, etwa für einen Zürcher Unternehmer ein Wäschereischiff in die Limmat konstruiert. Mit unsichtbaren sanitären Anlagen, einem innerhäuslichen Tabubereich, einem notwendigen Übel, waren aber nun wirklich keinerlei architektonische Lorbeeren zu gewinnen. Überhaupt musste sich der inkommodierte Bauleiter zunächst anscheinend eine Übersicht über die sanitären Gegebenheiten verschaffen, denn er liess sich erst am 17. Oktober 1918 vernehmen:
“zu der Zuschrift von Frau Schinz ist zu bemerken dass in den neuen Instituten der E.T.H. besondere Aborte für Damen vorhanden sind, und dass im Hauptbau in dieser Hinsicht in weitgehendem Masse besondere Damen Aborte vorgesehen sind.”
Schon anderntags informierte der Schulratspräsident Frau Schinz brieflich über den Befund. Frau Schinz hätte demnach sozusagen offene Toilettentüren eingerannt.
Ob allerdings die separaten Einrichtungen für Damen im Hauptgebäude tatsächlich schon vor dem Gesuch von Frau Schinz vorgesehen waren oder erst hinterher, würde vielleicht das Studium der damaligen Baupläne zeigen. Jedenfalls wurden die Damentoiletten in die Zwischengeschosse eingebaut, die Frauen gewissermassen in eine unreale Zwischenwelt, wenn nicht gar zwielichtige Halbwelt verwiesen. Hinter den Hinweis auf besondere Aborte für Damen in neuen Instituten ist ein Fragezeichen zu setzen. Noch in den 1950er Jahren mussten laut mündlicher Auskunft ehemaliger Studentinnen die Frauen beispielsweise im Gebäude der Naturwissenschaften, fertiggestellt in der Ära Gull 1917, den Schlüssel für den Einlass in sogenannte Professoren-WCs besorgen. Ähnlich wie Frau Schinz den Vorgang 1918 im Chemiegebäude beschreibt. Hatte etwa später die durchwegs männliche Professorenschaft die modernen Damentoiletten annektiert als standesgemässe Separierungsmöglichkeit von den Studierenden?
Literatur:
Zur Entwicklung der sanitären Verhältnisse in der Stadt Zürich siehe Martin Illi, Von der Schîssgruob zur modernen Stadtentwässerung, 1987.