Richard Wagner kannte Gottfried Semper aus ihrer gemeinsamen Zeit in Dresden. Der Komponist inszenierte mit grossem Erfolg seine Werke in dem 1841 fertig gestellten königlichen Hoftheater, mit dem Semper seinen internationalen Ruf als herausragender Baumeister begründet hatte. Nach der Niederschlagung der Dresdner Maikämpfe von 1849, an denen sich Wagner und Semper beteiligt hatten, mussten allerdings beide die Stadt verlassen. Wagner ging nach Zürich, Semper via Paris nach London.
Vor- und Rückseite des Briefs von Richard Wagner an Gottfried Semper. Zürich, 14.8.1854 (Hs 09:6)
Aus Zürich erreichte Semper im August 1854 der abgebildete Brief Wagners:
Lieber Freund!
Soeben frägt man bei mir an, ob Sie an der neu zu errichtenden eidgenössischen polytechnischen Schule die Stelle als Professor der Baukunst annehmen würden? Ich konnte, da Sie in London gut versorgt wären, wenig Hoffnung machen, versprach aber, Ihnen die Anfrage mitzutheilen, wozu mich noch die Versicherung meines Freundes, Regierungsrath Sulzer bestimmte, der mir sagte, dass die Ihnen angetragene Stelle besondere Vortheile böte: ausser 4000 fr Gehalt fielen nicht unbedeutende Collegien-Gelder, vor allem aber würden Sie dadurch zur obersten Autorität in Bauwerken für die ganze Schweiz, was Ihnen Aufträge und Einkünfte von nicht geringer Bedeutung einbringen würde. – Hätte es nun mit Ihrer Londoner Stellung irgend einen geheimen Hacken, der Ihnen dieselbe verleide, so zögen Sie am Ende das Schweizer Anerbieten doch in Betracht.
Ich melde Ihnen daher alles – zwar mit wenig Hoffnung – aber mit dem sehr eigensüchtigen Wunsche, dass es Ihnen in London nicht gefiele: denn Sie hier zu haben sollte mich ungeheuer freuen.
Ich lebe sehr – arbeitsam: mit der Musik zum Rheingold bin ich fertig, die Walküre ist angefangen. Ohne Ihre Hülfe kann ich dereinst an keine Aufführung denken.
Schreiben Sie mir doch ja, damit man auch etwas von Ihnen erfährt.
Ihr Richard Wagner
Dieser Brief ist ein prominentes Beispiel für den Einsatz von Netzwerken bei der Besetzung der Professuren des neu gegründeten Polytechnikums. Auf Basis der gesetzlichen Grundlagen machten sich 1854/55 der erste Polytechnikumsdirektor, Joseph Wolfgang von Deschwanden, und der fünfköpfige Schulrat an den konkreten Aufbau der neuen Schule. Es mussten Räumlichkeiten bereit gestellt, Professoren angestellt, Reglemente und Lehrpläne ausgearbeitet werden. Um sich als frisch gegründete Lehranstalt erfolgreich in der internationalen Bildungslandschaft zu positionieren, wurde dabei bewusst versucht, sich auf verschiedenen Ebenen einen Konkurrenzvorteil zu verschaffen. Wichtiger Bestandteil dieser Anstrengungen war die Berufung von bekannten Persönlichkeiten als Professoren.
Die Stellen wurden zwar offiziell ausgeschrieben, wichtiger für deren Besetzung war aber der diskrete Einsatz von Beziehungen. In den frühen Schulratsprotokollen finden sich viele Spuren dieser Berufungspolitik. Deschwanden und die Mitglieder des Schulrats, dem u.a. auch Alfred Escher angehörte, nutzten ihre vielfältigen Beziehungen im In- und Ausland, um mit geeigneten Kandidaten in Kontakt zu treten. So wurde etwa am 24.8.1854 der Zürcher Architekt Johann Jakob Breitinger angefragt, ob er dank seiner “Connexionen” in Erfahrung bringe könne, ob Gottfried Semper bereit wäre, aus seinem Londoner Exil als Architekturprofessor nach Zürich zu kommen. Der Brief Wagners an Semper zeigt aber, dass auch Beziehungen ins Spiel gebracht wurden, die in den offiziellen Akten des Schulrats nicht greifbar werden. Im Falle Gottfried Sempers führten die vielfältig genutzten Verbindungen zum Ziel: Er nahm mit dem Schulrat Verhandlungen auf und wurde schliesslich am 7. Februar 1855 vom Bundesrat zum Professor ernannt.
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Der Nachlass Sempers befindet sich im Archiv gta. Ergänzende Dokumente finden sich in den Archiven und Nachlässen der ETH-Bibliothek.
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